Liebe Freunde des OSM,
verschiedentlich sagte ich es schon, und auch ein kurzer Blick in meinen Überblicks-Rezensions-Blog 200 zeigt es recht deutlich: Fantasy ist heutzutage nicht mehr ganz meine favorisierte Lektürerichtung. Da tummelt sich wirklich bedauernswert viel schematischer Stoff, immer wieder gehen Grüppchen politisch korrekt zusammengesetzter und zusammengewürfelter Schicksalsgenossen auf Queste. Da finden wir die unvermeidlichen Zauberer, Elfen, Zwerge, Barbaren mit starkem Schwertarm oder vergleichbaren martialischen Kenntnissen, gern auch Diebe oder Jugendliche mit einer problematischen, weil vorherbestimmten Biografie… na ja, solche Stoffe ziehen mich schon ziemlich lange nicht mehr an.
Der vorliegende Roman, ein wirklich ziemlich opulenter Schinken, bricht aus den erwähnten Kategorien auf vielfache Weise aus. Zum einen ist er verfasst von einer ausdrücklichen SF-Autorin, so dass sich klassische SF-Topoi wie die Zeitreise unvermittelt in der Handlung wieder finden. Zum zweiten hat die Autorin ihre Märchen solide gelesen und kämmt sie nun munter und humorvoll gegen den Strich und nimmt sie als Ausgangsbasis für weitere verwegene Abenteuer, die dann nicht eben gering die Zeitgeschichte vom 14. Jahrhundert bis in die ferne Zukunft sprenkeln.
Und sie hat eine etwas tapsige, aber niedliche und eben sehr attraktive Hauptperson (ob man bei „Beauty“ von Heldin sprechen sollte, sei dahingestellt… es gibt dabei gewissen Anlass für Zweifel, wie ihr bei der Lektüre rasch entdecken werdet). Ja, sie ist etwas sehr schwatzhaft, und die Klügste unter der Sonne ist sie auch nicht… aber man muss sie irgendwie lieb haben, auch wenn ihre Handlungen manche Zeitgenossen sich die Haare raufen lässt.
Seid ihr bereit für eine muntere, abenteuerliche und recht lange Zeitreise kreuz und quer durch die Realität und alternative Gefilde? Dann mal auf ins Abenteuer, Freunde:
Die Schöne
(OT: Beauty)
von Sheri S. Tepper
Heyne 5344, Hardcover
674 Seiten, 1995
Aus dem Amerikanischen von Biggy Winter
ISBN 3-453-08537-X
Ja, wenn doch die Uhrenfee Carabosse nicht so Recht hätte! Die Dinge könnten sich viel besser, zielstrebiger, harmonischer entfalten. Aber andererseits hätte dann der Fürst der Finsternis auch schon gewonnen, bevor Beauty überhaupt verstanden hätte, was geschähe. Also ist es vielleicht doch ganz gut so, dass Beauty zwar unbestreitbar Schönheit von ihrer Feenmutter Elladine von Ylles geerbt hat, aber keine Intelligenz.
Aber vielleicht sollte ich von vorne anfangen. Die Sache ist etwas verwickelt.
Man schreibt das Jahr des Herrn 1347, als die einzige Tochter des Herzogs von Westfaire in England, Beauty, sich mit einer grundlegenden Veränderung ihrer häuslichen Umgebung konfrontiert sieht. Sie ist ein bildhübsches, ihrem Namen absolut entsprechendes Mädchen von bezaubernder Naivität und Unschuld, ihr mürrischer Vater beachtet sie kaum (er hat mehr mit Pilgerfahrten zu tun, bei denen er – zu Beautys Unverständnis – sich „die verrottenden Gebeine toter Menschen anschaut!“; das heißt, das tut er, wenn er nicht ständig mit wechselnden Frauen in seinem Gemach verschwindet), und so wächst sie unter der Fuchtel ihrer zahlreichen, meist schon ergrauten Tanten auf. Ihre Mutter hat Beauty nie kennengelernt, es heißt, sie sei früh verstorben. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.
Die ganze Wahrheit (oder das, was sie dafür hält) kommt ans Tageslicht, als ihr Vater sich neu verheiraten möchte. Beautys Schwiegermutter Sibylla vertreibt das Mädchen aus seinen Räumen in jenen Turm, den man den Taubenturm nennt, und hier – und im Gespräch mit Dienstpersonal – kristallisiert sich allmählich heraus, dass Beautys Mutter Elladine eine Fee war, die eines Tages vom Herzog von Westfaire in den Turm eingesperrt wurde, aber spurlos daraus verschwand. Sie ist also, frohlockt das Mädchen, noch am Leben.
Doch gibt es einen Fluch, oh weh, ausgesprochen von Beautys Tante Carabosse, heißt es, der besagt, dass Beauty sich am 16. Geburtstag an einer Spindel stechen und daran sterben soll.1 Und dieser Geburtstag steht unmittelbar bevor! Allerdings ist bei der Übermittlung dieses Fluches irgendetwas schiefgegangen, wie es scheint – als nämlich der Tag ihres Geburtstags kommt, tauscht Beauty mit einem befreundeten Mädchen aus dem Dorf (das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist, womit klar feststeht, wer der Vater des Mädchens ist), den Platz und muss, unter einem magischen Tarnmantel dabeistehend, entsetzt mitbekommen, wie ihre Freundin Herzchen (das Double) und alles Hofpersonal menschlicher und tierischer Provenienz, in tiefen magischen Schlaf fällt. Um Westfaire wächst in beängstigendem Tempo eine magische Rosenhecke.
Beauty ist völlig verstört und flüchtet mit ihren Siebenmeilenstiefeln, die sie sich geschneidert hat – Himmel, Beauty ist eine Halbfee, schon vergessen? Natürlich hat sie magische Kräfte, auch wenn sie die Natur der meisten davon beim besten Willen nicht weiß. Bedenkt, Intelligenz ist nicht ihre Gabe! – aus Westfaire und ist todunglücklich. Sie hat genug Grund dazu, hat doch Pater Raymond schon zuvor den Hofangestellten Giles vom Hof verwiesen und auf eine Pilgerreise geschickt, weil Beauty ihn heimlich anhimmelte (das geht natürlich nicht. Unter Stand!).
Die Uhrenfee Carabosse, die aus dem Feenreich Feery über Beautys Wohl wacht – passt irgendwie mit dem Fluch nicht zusammen, gell? Stimmt. Da ist ja auch einiges falsch übermittelt worden – und sie veranlasst hat, den Tarnmantel und die Siebenmeilenstiefel zu schneidern, ist nun der Überzeugung, dass sich Beauty mittels der Stiefel unverzüglich auf den Weg zu ihrer Mutter machen wird.
Hätte sie vielleicht auch – aber da stolpert Beauty, was Carabosse nicht vorhergesehen hat! – , über ein zeitreisendes Filmteam aus dem 22. Jahrhundert, die „das Ende des Zaubers“ festhalten wollen und das Mädel in die Zukunftswelt des 22. Jahrhunderts entführen. In eine Zeit, in der die Feen keine Macht mehr haben, weil dort kein Zauber mehr existiert. Und in jener Epoche dominiert der Herr der Finsternis, der auf das bald bevorstehende Ende der Menschheit wartet…
Wer denkt, damit hätte ich den größten Teil des Buches erzählt, kann sich beruhigt zurücklehnen – das sind gerade mal gut hundert Seiten (und vieles fehlt). Denn nach dieser Reise in die Zukunft geht das Drama eigentlich erst richtig los. Weitere Stationen des Mädchens sind das rätselhafte Land Chinanga, wo es so seltsame Attraktionen gibt wie die Kathedrale von Sankt Frosch, das märchenhafte Reich Baskarone und den Dampfer Stugos Queen. Beauty lernt die Heimat ihrer Mutter, das legendäre Feery und seinen Regenten Oberon kennen, das 20. Jahrhundert und die verstörenden Realitäten des 14. Jahrhunderts.2 Und sie erfährt natürlich von der Beziehung zum Allerhöchsten, was eine sehr verzwickte Angelegenheit ist.
Bald wird ihr fernerhin klar, dass die Menschheit, wenn die Feen ihrer Rolle nicht endlich gerecht werden, Beschützer der menschlichen Rasse gegen die Bosheit des Fürsten der Finsternis zu sein, im 22. Jahrhundert untergehen wird.3 Jene Welt, in der sie zu Besuch war, wird Realität gewinnen und die einzige Realität bleiben. Eine Welt ohne Feen und ohne Menschen, eine triste Wüstenei. Was Beauty aber lange Zeit nicht versteht, ist, warum der Fürst der Finsternis ausgerechnet hinter IHR her sein sollte. Und was für eine rätselhafte Saat nahe ihrem Herzen brennt, das ist ihr auch nicht klar.
Die Pläne der Fee Carabosse kollidieren jedenfalls ständig mit Beautys Unverständnis und ihrem Eigensinn, besonders dann, als sie, von einem Vergewaltiger schwanger, in der Vergangenheit ziellos herumirrt und schließlich das Schicksal ihres Kindes weiter verfolgen will. Ich erspare dem Leser Details, um die Neugierde wachzuhalten.
Mit einem bemerkenswerten Geschick und Augenzwinkern hat Sheri S. Tepper, die eigentlich im SF-Genre beheimatet ist, in diesem umfangreichen Roman die vergnügliche Tour de force durch die Märchenwelt Disneys angetreten. Wir begegnen einem Prinz Charming, sprechenden Fröschen, bösen Schwiegermüttern, Aschenputtel, Dornröschen und zahlreichen anderen Wesen, die uns mal ein Kichern, mal ein Kopfschütteln entlocken. Dabei verspinnt die Autorin die Fäden der Märchen geschickt mit der Zeitgeschichte, der Mythologie und Phantastik, ohne freilich jemals die Fäden aus der Hand gleiten zu lassen.
Sheri S. Tepper ist sowohl humorvoller, menschlicher, wärmer und erfahrener, ihre Personen, so schrullig sie bisweilen auch sein mögen, sind stets in sich „rund“, sie handeln nachvollziehbar (auch wenn man viele ihrer Taten beim besten Willen nicht mögen muss), und die Handlung hat ein, wenn auch überraschendes, stimmiges Ende. Von solchen Büchern kann man noch vieles lernen, nicht zuletzt Menschlichkeit jenseits aller Klischees.
Außerdem sollte man nicht glauben, wie viel an Zeitkritik dieser Roman enthält. Wenn Beauty in der Hölle beispielsweise die radikalen Abtreibungsgegner wiederfindet, dann bezieht Sheri S. Tepper hier – und in vielen anderen Dingen – demonstrativ politisch Position, was den ahnungslosen Leser manchmal doch sehr überrumpelt. Der Roman hat darum an vielen Stellen auch politischen bzw. Gleichnis-Charakter und beeindruckt zusätzlich.
Wer sich, um es auf den Punkt zu bringen, also ein paar Tage lang wunderschön unterhalten möchte und die Bekanntschaft der (schwatzhaften) Beauty, der Tochter des Herzogs von Westfaire machen möchte, sollte das unbedingt tun. Es ist eine köstliche Lektüre, die den Leser mit der Schmalspur-Fantasy von heute beim besten Willen wieder versöhnt. Im Format, in dem heutzutage die Heyne-Bücher gesetzt werden, würde dieses Buch wohl locker 2000 Seiten Länge erreichen…
© 2008 by Uwe Lammers
Wirklich ein abenteuerliches Garn, daran kann kein Zweifel bestehen. Und solche Exoten versöhnen mich dann mit der Allerweltskost der zeitgenössischen Fantasy, die in langen und immer längeren Zyklen mit zunehmend einfallsloseren Namen besteht. Das Schönste an solchen Werken sind zumeist die Titelbilder, auf denen sich höchst talentierte Illustratoren austoben können. Aber bitte, ich bin der – vielleicht antiquierten – Auffassung, dass man doch nicht 08/15-Stoffe nur deswegen auf Aberhunderte von Seiten pressen sollte, weil man ein schönes Titelbild gefunden hat, das man verwenden will. Etwas Substanz und Einfallsreichtum im Inhalt sollte dann auch gegeben sein.
Ist das beim Buch der nächsten Woche der Fall, das ja auch von einem ausgewiesenen Vielschreiber mehrhundertseitiger Romane stammt? Die Rede ist mal wieder von Clive Cussler.
Nun, um herauszufinden, ob es sich um ein gutes und versiertes Werk des Bestsellerautors handelt oder nicht, konsultieren wir am besten meine diesbezügliche Rezension, die ich euch kommende Woche vorstellen möchte.
Bis dahin sage ich Adieu!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Wem das bekannt vorkommt, der sei darauf vorbereitet, dass in das Geflecht dieses Romans noch weitere Märchenanleihen verarbeitet wurden, auf höchst originelle und unterhaltsame Weise. Manchmal kommt man aus dem Kichern nicht heraus.
2 Man merkt hier übrigens deutlich, dass die Autorin das Buch Der ferne Spiegel von Barbara Tuchman gelesen hat, das ich kurz vor dieser Lektüre ebenfalls las. Das Werk beschreibt die Lebensumstände und Politik des 14. Jahrhunderts und ist als erschütternde Hintergrundfolie für den Tepper-Roman sehr zu empfehlen.
3 Kenntnisreiche Leser und Filmfans werden erkennen, dass sich Tepper in der Beschreibung des 22. Jahrhunderts einwandfrei an dem Film „Soylent Green“ („Das Jahr 2022 – Die überleben wollen“, hieß es wohl in der deutschen Übersetzung) orientiert hat. Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann ist es wohl diese Welt. Ja, die ANDERE Hölle lernt Beauty leider auch kennen.