Liebe Freunde des OSM,
skeptische Leser und Zeitgenossen, die zufällig auf meinen Blog stoßen sollten, müssen sich vermutlich bei der Rezension, die ich heute vorstellen möchte, warm anziehen. Und das hat nicht allein etwas mit der frostigen Witterung jenes Augenblicks zu tun, in dem ich diese Zeilen schreibe (19. November 2018). Es hat vielmehr mit dem Thema zu tun.
Es geht um Reinkarnation.
Wer zu den eingefleischten Skeptikern gehören sollte – lese weiter.
Wer ohnehin davon überzeugt ist, sollte auch weiter lesen.
Robert L. Snow, der Autor des vorliegenden Werkes, das in den seltsamen Zwischenbereich zwischen historischer Recherche, Autobiografie und Spiritualität fällt (um mal so die Pole zu umreißen, die hier gestreift werden), ist anfangs hartleibiger Skeptiker und ganz dem Diesseits verhaftet. Im Laufe der eher zufälligen Recherche wandelt sich seine ursprüngliche Einstellung gründlich. Dennoch denke ich, ist die anfangs misstrauische, realitätsbasierte Anschauung nicht einfach nur Attitüde. Das wäre etwas zu billig. Er macht tatsächlich einen Charakterwandel durch und wird dabei sowohl vom Zauber der Archive eingefangen (was ich als Historiker wirklich bestens nachvollziehen kann) als er auch einem eher esoterischen Zauber erliegt: dem lautlosen Ruf des Vorlebens.
Denn wie ihr sehen werdet, muss Snow entdecken, dass – gleich Schichten in geologischen Formationen – unter seinem Sein der Gegenwart noch ein vorheriges verborgen liegt, möglicherweise sehr viele davon. Dass die Seele eines Menschen nicht irgendwo aus dem Nichts kondensiert (oder vielleicht, wie Rationalisten annehmen, gar nicht existiert), sondern es sich um einen ätherischen Stoff handelt, der von einer leiblichen Hülle in die andere wandert.
Auf eine faszinierende Weise untergräbt Snow so die fundamentalen Prinzipien der Biologie, der genetischen Abstammungslinien. Und das, was Buddhisten immer schon wussten, nämlich dass die Seele, die im Zyklus des Karma verfangen ist, von einer Existenz zur nächsten wandert. Und dass sie dabei nicht auf genetische Abstammung, „völkische Zugehörigkeit“, „rassische Herkunft“, Hautfarbe, Nationalität oder Geschlecht basiert.
Zudem ist Snows Buch meine Ansicht nach ein beeindruckendes Plädoyer für Flexibilität auf all diesen Feldern. Wer es liest und den dort geäußerten Ansichten Plausibilität zubilligt, weitet seinen Wahrnehmungshorizont deutlich aus und entsagt engstirnigen Denkkategorien. Ich schätze, wer sich mit Fug und Recht Weltbürger nennen kann, wird von den folgenden Zeilen nicht schockiert werden.
Es lohnt sich, weiterzulesen, versprochen:
Als ich Carroll Beckwith war
(OT: Looking for Carroll Beckwith)
von Robert L. Snow
Heyne-Sachbuch 749
208 Seiten, TB
Dezember 2000, damals 16.90 DM
Übersetzt von Katrin Marburger
Das Leben beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Dies ist eine fundamentale Erkenntnis, die sich nicht widerlegen lässt. Tagtäglich machen wir die Entdeckung, dass man sich über die Geburt eines neuen Menschen freuen kann und das Verscheiden lieber Menschen betrauern muss.
Doch was wäre, wenn dies nur ein Teil des Ganzen wäre? Wenn wir einen anderen Standpunkt einnehmen müssten, um den Kreis zu schließen, von dem wir annehmen, er sei geschlossen? Möglicherweise unterliegen wir nämlich einer fundamentalen Täuschung, gleich einer optischen Illusion. Wie reagierten wir bei der Entdeckung von Fakten, die darauf hindeuteten, dass jenseits aller Religionen der Tod keineswegs das Ende und die Geburt nicht der Beginn ist?
Robert L. Snow, seines Zeichens ein überaus kritischer amerikanischer Polizist und Leiter der Mordkommission des Indianapolis Police Department, gerät eher durch einen Zufall in die Lage, die sein gesamtes Leben erdrutschartig – und gegen seinen Willen – verändert.
Aufgewachsen in einer strengen methodistischen Gemeinde, hat er mit Esoterik und „solchen durchgeknallten Spinnern“, die an Wiedergeburt und ähnliches glauben, wahrlich überhaupt nichts zu tun, sondern ist fest davon überzeugt, dass alle diese Leute entweder von ihren Ratgebern irregeführt werden oder nicht mehr ganz dicht sind. Allerdings stellt er fest, dass manche Kriminalisten Gebrauch von einer in seinen Augen eher obskuren Technik machen – der hypnotischen Rückführung.
Meistens wird man auf diese Weise durch einen Psychiater hypnotisiert und dann in frühe Kindheitstage zurückversetzt, um so auf die Spur von sexueller Misshandlung zu kommen, die den Täter später selbst zum Triebtäter machte. Snow bleibt sehr skeptisch, liest aber als interessierter und psychologisch gebildeter Polizist einiges zu dem Thema und stößt letztlich auch auf Raymond Moody, der davon erzählt, dass man mittels Rückführung auch in frühere Leben zurücktauchen kann.
Das hält Snow für völlig ausgeschlossen.
Dennoch findet er sich schließlich in der unangenehmen Situation wieder, eine solche Rückführung bei sich selbst durchführen zu lassen, was ihn anfangs nicht im Mindesten berührt und, wie er meint, eher peinlich sein wird, weil er nur flunkert… bis zu einem gewissen Punkt. Dann aber tauchen auf einmal Bilder in ihm auf, nein, das ist falsch gesagt, er IST in einer Landschaft, die er nie zuvor gesehen hat, und es ist wie ein unglaublicher, aufregender und allumfassender 3-D-Film, in dem er sich bewegt.
Schließlich findet sich Snow in der Gestalt eines Mannes mit Gehrock und Spazierstock wieder. Er weiß, er „ist“ ein Maler, Porträtmaler, er sieht „sich“ beim Porträtieren einer buckligen Frau, und wiederholt sträubt sich der Polizist gegen die Anordnungen seiner Psychiaterin, zeitliche Sprünge durchzuführen. Als Snow schließlich aus der Hypnose auftaucht, ist er völlig durcheinander und kann diese intensiven Eindrücke nicht aus seinem Kopf bekommen.
Alle Versuche, wieder Ordnung in seinen Verstand zu bringen, bleiben vergebens. Zweifellos, redet er sich ein, sind das nur irgendwelche unterbewussten Informationen, die er verdrängt hat und die unter der Hypnose zu Tage getreten sind. Wahrscheinlich hat er die Gemälde, die er „sah“, in Schulbüchern gesehen oder in einer Ausstellung.
Die einzige Chance, die ihm bleibt, ist, nachzuforschen, woher diese Eindrücke kamen. Doch monatelang bleiben all seine Versuche auf klägliche Weise erfolglos. Schließlich begräbt er diese Geschichte und ist überzeugt, niemals weiter voranzukommen.
Bis er wieder Monate später in New Orleans in einer kleinen Galerie ein Portrait entdeckt – das Bildnis einer kleinen, buckligen Frau, eben jenes Bild, bei dessen Malen er „sich“ in der Hypnose gesehen hat.
Es ist das Werk eines inzwischen fast unbekannten Porträtmalers namens James Carroll Beckwith, das Snow durch einen unglaublichen Zufall gefunden hat. Und mit einem Schlag ist alles wieder an der Oberfläche seines Bewusstseins. Nun beginnt sich sein kriminalistischer Spürsinn zu regen. Er hat einen Ansatzpunkt, weiß, nach wem er zu suchen hat. Nun ist es natürlich bestimmt einfacher, alle okkulten Erklärungen auszumendeln und eine plausible Ursache für die in der Hypnose gemachten Erfahrungen zu finden, nicht wahr? Er ist doch strenger Rationalist und möchte nichts dringlicher, als eben seine Seelenruhe zurückerlangen.
Robert Snow begibt sich auf die Spurensuche nach Carroll Beckwith. Schon sehr rasch muss er aber ernüchtert erkennen, dass Beckwith ein Niemand ist. Jemand, über den keine Bücher geschrieben wurden. Es gibt keine Dokumentationen über ihn. Keines seiner Gemälde ist je in Schulbüchern gewesen, die letzte Ausstellung fand 1912 statt…
Wie um alles in der Welt hat ER etwas über Carroll Beckwith erfahren? Woher weiß er, dass er verheiratet und kinderlos war? Dass Beckwith 1917 starb? Dass er Portraits malte, dies verabscheute, aber des Geldes wegen zu tun gezwungen war?
Es gibt so viele Einzelheiten, dass es Snow mehr und mehr graust, je tiefer er sich in die Einzelheiten von Beckwith´ Leben einarbeitet, das 1852 begann und im kalten New York im Oktober 1917 endete. Je mehr der Polizist erfährt, desto mehr muss er sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es wirklich stimmt. Dass er nicht nur Robert L. Snow ist und immer gewesen ist, sondern dass er vor seiner Geburt schon einmal gelebt hat – als der Maler Carroll Beckwith…
„Spurensuche einer Reinkarnation“ ist der Untertitel des Buches, eine sehr zutreffende Charakterisierung dieses Buches, das mit kriminalistischem Gespür geschrieben ist und einen Sog ausstrahlt, der den Leser in seinen Bann zieht und nicht mehr loslässt, bis das Buch ausgelesen ist. So wenigstens ging es mir. Normalerweise passiert es mir nie, dass ich ein Buch am Morgen kaufe und am Abend seufzend und zufrieden beendet sinken lasse. So ging es mir heute.
Natürlich, mag man sagen, ich bin Historiker. Ja. Natürlich, kann man behaupten, ich bin ja Biografiehistoriker. Sicher. Natürlich, wird vielleicht jemand einwenden, ich habe schon seit langer Zeit die Ansicht verinnerlicht, dieses Leben sei nicht der Kreis, der mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. All das stimmt und macht mich möglicherweise zu einem voreingenommenen Leser. Doch wenn man die durchweg kritischen Schilderungen und Seelenqualen Robert Snows durcharbeitet, all die logischen und rationalen Erwägungen akzeptiert und miterleben muss, wie ihnen durch die Faktenbeweise der Boden entzogen wird… der wird schon in seiner Überzeugung schwankend, dies könne reine Fiktion sein.
Snow ist nicht jemand, der fanatisch die Leser überzeugen möchte, ein früheres Leben sei möglich. Er möchte es eigentlich widerlegen, schafft es letztlich aber nicht. Das macht die Geschichte ungemein faszinierend. Und Snow hat eine Menge Glück dabei gehabt, denn Beckwith ist, entgegen der Ausgangsbehauptung, doch kein „Nobody“. Er hat biografische Spuren hinterlassen, die sich in Archiven finden lassen…
Was kann man für Lehren aus dieser biografiegeschichtlichen Recherche ins eigene Vorleben ziehen? Zum einen, denke ich, eine trostreiche: die Vorstellung, dass das Leben ein Kreis ist, der weit über das hinausreicht als das, was man normalerweise glaubt. Zudem jene Lehre, dass im idealen Fall etwas von uns bleibt, nach dem man fahnden kann. Ohne dass Snow das Hohelied der Archive, Bibliotheken und Galerien singt, weiß er ihre Bewahrungsleistung sehr zu würdigen.
Drittens aber, und das ist vielleicht das Problem an dieser Recherche, muss man im Falle, dass man sich auf die Suche nach den Personen macht, die man in vorangegangenen Leben gewesen ist, Gefahr laufen, das gegenwärtige Dasein zu schädigen. Man kann sich vertrauten Menschen entfremden, man kann obsessive Leidenschaften entwickeln, im Extremfall die geistige Gesundheit aufs Spiel setzen.
Ich neige jedoch dazu, dass dieses Risiko es durchaus wert ist, eingegangen zu werden. Man entdeckt dabei Dinge, die man niemals für möglich gehalten hätte. Und wenn man erfolgreich ist, in jeder Hinsicht erfolgreich, kann sich das eigene Leben grundlegend wandeln, neuen Sinn und Lebensqualität schaffen. Das wiegt die Nachteile meiner Ansicht nach auf.
Und wer neugierig geworden ist, sollte der Fährte von Snow folgen.
Es lohnt sich.
© 2004 by Uwe Lammers
Ich war schwer beeindruckt, als ich die Rezension schrieb? Wahrhaftig, das war ich. Aber ich bin ziemlich überzeugt davon, dass es vielen meiner Leser nach der Lektüre des Werkes ebenso ergehen wird. Es hat nicht umsonst einen schönen und dauerhaften Platz in meinen Bücherregalen gefunden.
In der kommenden Woche vollführen wir wieder einen vollkommenen thematischen Sprung hinüber zu den Ufern der Fantasy. Wir verfolgen den Lebensweg eines Märchenwesens, das sich in der Wirklichkeit wieder findet und damit so einige Schwierigkeiten bekommt.
Mehr in sieben Tagen an dieser Stelle!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.