Liebe Freunde des OSM,
manchmal macht man einfach unerwartete Leseentdeckungen in den eigenen Bücherschränken und stößt in Werken, die man seit vielen Jahren hin und her geschoben hat, kleine Juwelen, die völlig verzaubern. So ist es mir mit dem vorliegenden Werk gegangen, das inzwischen natürlich längst vergriffen ist (man sehe sich das Erscheinungsdatum an!). Aber wie ich nicht müde werde, meinen Freunden wieder und wieder zu sagen: nicht alles, was im Verzeichnis Lieferbarer Bücher (VLB) heutzutage in den Buchhandlungen steht, ist lesenswert. Und erst recht ist das nicht alles, was man als Lektüre verfügbar hat, schon gar nicht in Zeiten von Online-Antiquariaten.
Okay, das ist nicht wirklich eine Neuigkeit, ich weiß. Aber mir scheint, ich sollte immer mal wieder darauf hinweisen. Das ist nämlich so ähnlich wie mit dem ständigen Lamento über das einfallslose Fernsehprogramm – wer darüber jammert und jault, sollte sich wirklich, wenn er Filme den Büchern vorzieht, an Internet-Streaming-Dienste halten, die zigtausende von Filmen und Serien aus früheren Jahrzehnten vorrätig haben. Dann kann man sich einfach das raussuchen, worauf man gerade Lust hat. So ähnlich verhält es sich mit dem Bücherangebot via VLB und den Online-Antiquariaten. Oder auch eben mit meinen Buchregalen daheim.
Ich habe den Roman von Ella Broussard damals auf dem Wühltisch gefunden und wie so viele Hunderte seiner Art lächelnd in meine Buchreihen eingeschoben mit dem Gedanken: Lesefutter für später, für Zeiten, wo ich weniger Geld besitze oder wo es in den Buchhandlungen nichts Gescheites zu lesen gibt.
Und dann trete ich halt von Zeit zu Zeit an meine reichhaltig bestückte Bibliothek ungelesener Bücher und ziehe das eine oder andere Werk hervor. Als ich nach diesem hier griff, tauchte ich in ein phantastisch übersetztes Kleinod ein, eine kokette Detektivgeschichte auf der Suche nach einem neuen Lebenssinn einerseits (das wird der Protagonistin aber erst später klar) und nach einem verschollenen Kunstwerk andererseits.
Was sie findet? Darüber informiere ich euch jetzt. Bitte weiterlesen:
Aphrodite gesucht
(OT: Searching for Venus)
Von Ella Broussard
Heyne 13735
304 Seiten, TB (2003)
ISBN 3-453-86675-4
Aus dem Englischen von Michael Koseler
Gute Romane müssen nicht zwingend lang sein – es reicht durchaus hin, wenn sie von einem sehr versierten Übersetzer so in Form gebracht worden sind, dass es ein reines süffiges Vergnügen ist, sie quasi in einem Rutsch durchzulesen und sich davon nicht mehr lösen zu können. So etwas widerfuhr mir, als ich mich vor wenigen Tagen dazu entschloss, dieses Buch aus meinen Regalen zu fischen, um mit der Lektüre zu beginnen. Ich hatte es mir im November 2004 antiquarisch besorgt und nun, mit fast dreizehn Jahren Verspätung, doch genau zur rechten Zeit gelesen. Und es ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen, euch an der Lektüre teilhaben zu lassen:
Louise Sherringham studiert in England Kunstgeschichte, und sie kommt, wiewohl eine extrem fleißige und findige Studentin, mit ihrem Dozenten Dr. Petersen so überhaupt nicht klar. Seine Vorlesungen sind trocken, ermüdend, und es ist zudem offensichtlich, dass er chauvinistisch ist, Frauen nicht ausstehen kann und klar männliche Studenten bevorzugt.
Als sie darum seine Vorlesung über den Venus-Mythos besucht, ist Louise die meiste Zeit reichlich gelangweilt und angeödet – bis er auf einmal ein Thema anschneidet, das sie geradezu elektrisiert: es geht um ein verschollenes Kunstwerk aus dem Jahre 1905, von dem nur noch ein einziges Foto existiert – von der legendären „Venus von Collioure“, die Gustave de Valence geschaffen hat. Er gehörte einer französischen Malerströmung an die man die Fauves nannte, die „Wilden“. Das letzte Mal wurde das Bild 1910 gesehen, 1929 starb de Valence eines frühen natürlichen Todes.
Louise recherchiert fieberhaft über den unbekannten Maler und lässt sich darin auch nicht von den erotischen Zwischenspielen ihres Mitkommilitonen Tom abbringen. Nachdem ihr vormaliger Freund Jonathan, der so überhaupt nicht sexuell experimentierfreudig war – im Gegensatz zu Louise – sie verlassen hat, ist die tizianrote, leidenschaftliche Studentin heißhungrig und höchst neugierig auf erotisches Neuland. Und dann das verschollene Venus-Gemälde von de Valence ins Zentrum ihrer Abschlussarbeit zu stellen, scheint doch eine aufregende Herausforderung zu sein. Und vor Herausforderungen ist sie noch nie zurückgeschreckt.
Zu dumm: um die Reise nach Frankreich finanzieren zu können, braucht sie ein Stipendium. Doch als sie ihrem Betreuer – ausgerechnet Dr. Petersen – offenbart, dass ihre Abschlussarbeit den provokanten Titel „Verschollen und wieder gefunden: Die Suche nach der Venus von Collioure“ tragen soll, verweigert er ihr das Stipendium. Jetzt erst recht energisch betreibt Louise den Plan dennoch weiter, mindestens schon, um es ihrem arroganten Mistkerl von Professor zu beweisen.
Denn sie hat inzwischen schon eine Fährte aufgetan, wo das Gemälde zumindest 1990 noch gewesen sein muss. Sie führt tief in die Provence nach Südfrankreich zu einem kaum bekannten Künstler namens Milo Charpentier. Mit ihrem altersschwachen VW-Bus und einer Menge Equipment und Ausrüstung ausgestattet kann sich Louise schließlich auf den Weg machen, erst über den Kanal, dann quer durch Frankreich per Auto.
Es ist nachgerade eine Reise in die Sinnlichkeit selbst. Fort aus dem englischen, trübe-grauen Regenwetter in ein Reich des fast permanenten Sonnenscheins, der duftenden Felder, der idyllischen Alleen und atemberaubenden Weiten… schnell beginnt sie zu verstehen, warum die Maler hier so unglaublich kreativ waren, und sehr schnell beginnt sie den französischen, entspannten Lebensstil zu genießen. Picknick am Wegesrand unter einsamen Bäumen, Wegpausen in kleinen Ortschaften, das französische Essen und den Wein – sie genießt das alles sehr. Und sie macht diverse vergnügliche und erregende Wegerfahrungen, zum Beispiel mit einem Soldaten und einem goldigen Gendarm, der sie im Rahmen einer fingierten Verkehrskontrolle kurzerhand einem erotischen Test unterwirft. Auch ein früherer französischer Brieffreund, den sie jahrelang nicht gesehen hat, ist zunehmend von ihr bezaubert.
Das alles ist aber erst der Anfang.
Das Reiseziel ist ein kleiner Ort namens La-Roche-Hubert, in dem man Milo Charpentier in der Tat gut kennt – und Louise ausdrücklich vor ihm warnt! Er wohnt allerdings nicht im Ort selbst, sondern etwas außerhalb… und dieser Ort ist dann selbst eine Art von paradiesischer Idylle, und Milo ist dabei absolut nicht allein. Vielmehr hat er drei junge und sinnlich äußerst willige Nymphen bei sich, die man als seine erotischen Musen bezeichnen könnte. Und ja… nach einer ganzen Weile, während Louise zunehmend in den sinnlichen Reigen der kleinen Gruppe um den Maler einbezogen wird – absolut mit ihrer Zustimmung übrigens – , nach einer ganzen Weile gibt Milo zu, dass er weiß, wo sich die „Venus“ befindet.
Doch ehe Louise ans Ziel ihrer Wünsche gelangt, vergeht noch viel Zeit, und gegen Ende sieht es fast so aus, als sei alles ganz vergeblich gewesen…
Ich behaupte einmal: wer die ersten drei, vier Kapitel gelesen hat, wird sich dem semantischen Zauber dieses stimmungsvollen Buches kaum mehr entziehen können. Sowohl die durchaus wild entschlossene wie sinnlich experimentierfreudige Louise fesseln wie auch das Thema selbst – im Grunde genommen eine kriminalistische Spurensuche, wie sie Freunde von Sherlock Holmes und archäologischen Abenteuergeschichten gefallen kann. Es ist durchaus nicht allein die Erotik, die mich durch die Seiten scheuchte, sondern auch das gemächliche Anpirschen ans Ziel und das manchmal fast qualvolle Hinhalten der Protagonistin. Aber das lohnt sich unbezweifelbar.
In vielen erotischen Romanen, die ich früher las, findet man ein reges, in der Regel recht konstruiertes Durchdeklinieren von erotischen Einzelszenarien – Sex mit einem Fremden, Sex mit Voyeursperspektive, Liebe mit zwei Männern, mit exotischen Kerlen, mit Frauen usw., und in der Regel ist das relativ deutlich inszeniert und ein wenig öde. Wiewohl Broussard selbst auf die nämliche Weise verfährt, hat man doch dessen ungeachtet nicht das Gefühl, sie würde hier von einer Variante zur nächsten hüpfen, um gewissermaßen die Zentralthemen des Kamasutra durchzudeklinieren. Es ist mehr so, dass sich die Situationen, ja, wie soll man das nennen?, also, dass sie sich wie von selbst ergeben und gleich geschickt arrangierten Gartenelementen in die Landschaft des Romans hineinschmiegen, mehrheitlich sogar auf kokett-amüsante Weise. Und nahezu immer bleibt Louise Herrin der Lage. Auch das ist ja nicht selbstverständlich.
Zugegeben… gegen Schluss, als sie das Schloss des Comte de Grand Pressigny erreicht, wird die Geschichte ein wenig anstrengend, aber sie bleibt interessant und aufregend. Es sei nicht verraten, was sich dort noch alles ereignet oder wie Milo in den Besitz des Gemäldes kam (der Klappentext ist offensichtlicher Nonsens, da er das Bild selbst natürlich nicht gemalt hat! Er wurde ja erst 60 Jahre später geboren!).
Interessant ist vielmehr eine andere Tatsache – die Künstlerbewegung der Fauves hat es tatsächlich gegeben, und eines ihrer Zentren war tatsächlich das südfranzösische Collioure, wo es in der Tat ein Kunstmuseum gibt. Auch der Brauch, dass mehrheitlich mittellose Künstler für Mahlzeiten und Alkohol mit Skizzen bezahlen, wie das im Buch geschieht, ist absolut authentisch. Dagegen sind sowohl de Valence als auch das Bild der „Venus“ Fiktion – aber sehr schön und raffiniert in ein höchst angenehmes Ambiente realer Natur eingepasst. Man merkt sehr deutlich, wie innig die Autorin Südfrankreich liebt und wie viele Charakterzüge sie ihrer „Heldin“ gibt, die vermutlich durchaus ihre eigenen sind. Die Begeisterung für Kräuter, ihr mitfühlendes Herz gegenüber Tieren und Kindern, die starke romantische Neigung und die innige Kunstbegeisterung verleihen Louise einen sympathischen, harmonischen Charakter, dem man die erotische Zügellosigkeit durchaus nachsieht. Letztere wirkt in Zeiten von Aids doch etwas sehr leichtsinnig… aber wenn man davon einmal absieht, ist es eine aufreizende und durchweg erotische Fahndung nach einem verschollenen Gemälde und seinem Künstler, gewürzt mit zahlreichen neckischen Überraschungen.
Ein Buch zum Schwärmen, Träumen und Genießen, fand ich bei der Lektüre, aus der ich mich kaum wieder lösen konnte. Sehr empfehlenswert. Und die weiteren Bücher der Autorin, die hier z.T. seit Jahren in meinen Bücherschränken warten, werden wohl nicht mehr lange darben müssen.
Eindeutige Leseempfehlung!
© 2017 by Uwe Lammers
Mann, ich sage euch, das war ein schönes Leseabenteuer! Ich bin auch ziemlich sicher, dass ich den Roman nicht das letzte Mal gelesen habe. Der ist in einigen Jahren bestimmt wieder an der Reihe. Momentan gibt es noch genug anderen Lesestoff.
In der nächsten Woche stelle ich euch noch so einen Exoten vor, der noch älter ist, aber nicht minder reizvoll. Mehr sei an dieser Stelle noch nicht verraten.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.