Liebe Freunde des OSM,

ja, er ist unbequem. Er ist laut. Er ist durchaus hässlich anzuschauen, wenn man von der reinen Physis ausgeht, und sein Nachdruck in den Anliegen, die er ver­folgt, sind unendlich nervig. Der Mann polarisiert, und durchaus mit Recht – ein amerikanischer Filmemacher namens Michael Moore, um den es seit dem Ende der Regierungszeit von George W. Bush jr. stiller geworden ist (was nicht bedeu­tet, dass er nicht immer noch da draußen ist und provokative Filme zu provo­kanten Themen macht… tut er durchaus1).

Ich mache jedoch keinen Hehl daraus, dass ich den Kerl durchaus bewundere. Er ist ein Stehaufmännchen, das ständig und mitunter ziemlich mühsam gegen den Strom schwimmt… und ja, er schreibt höchst unterhaltsame Bücher. Da wir uns hier in einem ausgesprochen Buchblog befinden, war es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis ich auf Michael Moore zu sprechen kommen MUSSTE.

Wie, ihr meint, ich habe doch schon mal etwas zu ihm gebracht?2 Stimmt natür­lich… aber das ist doch schon soo lange her. Und manch einer von euch ist viel­leicht erst nach 2016 auf meinen Blog gestoßen. Außerdem sprang ich da ge­wissermaßen mitten rein in das Phänomen Moore in seiner Blütezeit.

Aber wie konnte so ein Rebell und ruppiger Kerl mit Ellenbogenmanieren über­haupt hochkommen? Wie gelang es ihm, ein breiteres Publikum zu erobern? War er am Anfang vielleicht charmanter und wurde erst später so derbe und provokant? Nein, durchaus nicht.

Seine Story begann mit einem kleinen Dokumentarfilm über seine Heimatstadt Flint in Michigan, und dann kam er wie die Jungfrau zum Kinde auf obskure Weise dazu, eine Fernsehserie zu drehen. Eben „Adventures In A TV Nation“.

Das klingt seltsam? Das ist seltsam. Ich habe es anno 2005 mit einem Märchen verglichen, und möglicherweise pflichtet ihr mir darin in Maßen bei, wenn ihr weiter lest. Denn so begann das „Phänomen Michael Moore“, genau so:

Hurra Amerika!

Adventures In A TV Nation“

von Michael Moore & Kathleen Glynn

Piper Hardcover 2004

320 Seiten, 17.90 Euro

Manchmal gibt es Märchen, die Wirklichkeit werden.

Ja, ja, ich weiß, das ist extrem selten, auch bei uns Phantasten von Natur aus. Aber genau deshalb scheint es sinnvoll, solche wahren Märchen einmal zu er­zählen, zumal dann, wenn sie in so gut dokumentierter Form und überaus un­terhaltsam geschrieben vorliegen. Lauscht also einfach.

Es war einmal ein fünfunddreißigjähriger Lokalpatriot, der ganz versessen dar­auf war, den Leuten ein wenig satirisch vorzuführen, was General Motors aus seiner Heimatstadt Flint in den USA gemacht hatte. Dadurch entstand der klei­ne Film „Roger & Me“. Ein typischer Low-Budget-Film.

Die Geschichte endete damit, dass der Film auf einem Filmfestival gezeigt wur­de, wodurch der Kinogigant Warner Bros. darauf aufmerksam wurde – und schließlich konnte man ihn in 2000 Kinos landesweit sehen. Der Film wurde 1989 ein ganz erstaunlicher kommerzieller Erfolg und machte den Macher und sein Team in den ganzen USA bekannt.

Der Mann hieß Michael Moore.

Aufgehorcht? Ja, aber das war erst der Beginn des Märchens.

Durch den Erfolg kam das Angebot von Warner Bros., doch eine Fernsehserie zu konzipieren… Sprang Michael Moore an die Decke vor Freude? Nein. Seine Re­aktion sah wie folgt aus: „Wir dachten: ‚Fernsehen? Was sollen wir beim Fernse­hen?‘ Wir wollten Filme drehen! Das Gespräch fand nie statt.“

Doch Dokumentarfilmer hatten es schwer in den USA, auch schon zu jener Zeit. Zumal das nächste Projekt, das Moore plante, „Canadian Bacon“ hieß – eine Farce über den Golfkrieg. Unverkäuflich. Schlimmer noch: unfinanzierbar. Das Thema war einfach zu heiß. Bis November 1992 saßen sie perspektivlos da und besaßen nicht einen Cent, um diesen verdammten Film zu drehen. Und dann rief die Fernsehgesellschaft NBC unvermittelt in Mikes Hotelzimmer an, teilte ihm mit, „Roger & Me“ hätte ihnen gefallen, und ob er vielleicht Ideen für eine Fernsehserie hätte.

Er hatte keine, erzählte aber das Gegenteil. Und hatte für den gleichen Nach­mittag einen Termin mit dem Präsidenten der NBC-Unterhaltungsabteilung.

Begeisterung?

Nein, verdammt! Er wollte Dokumentarfilme drehen, nicht eine verfluchte Fern­sehserie! Also dachte er sich mit seinen Crewkollegen im Schnellgang das Skript für eine Serie aus, die der Sender niemals im Leben bringen konnte. Eine Sen­dung, in der sie öffentlich Beichten bei der katholischen Kirche (und deren Stra­fen) vergleichen wollten. Sie wollten die Werbekunden von NBC aufs Korn neh­men und bis aufs Blut reizen… und so weiter.

NBC war begeistert.

Als Moores Leute aus der Verhandlung herausgingen, hatten sie die Zusage für eine Million Dollar und den Kontrakt, sechs Folgen einer Fernsehserie zu schaf­fen, die „TV NATION“ heißen würde.

Sie waren alle völlig platt: „Wir waren wie betäubt. Zwei Jahre lang hatten wir erfolglos versucht, einen Produzenten für einen Film zu finden, und jetzt krieg­ten wir in Burbank binnen fünfzehn Minuten eine Million Dollar, um eine Fern­seh-Show für die Hauptsendezeit zu produzieren. Wir waren wirklich in einem ganz absonderlichen Geschäft!“

Und das war erst der Anfang.

TV NATION ging am 19. Juli 1994 an den Start und endete nach 17 Folgen beim Sender FOX am 8. September 1995. Nein, entgegen den landläufigen Vermutun­gen wurde die Reihe nicht gestrichen oder aus dem Programm genommen, weil sie zu subversiv war (obwohl sie das unzweifelhaft war!), es lag auch durchaus nicht an den Einschaltquoten (die insbesondere dann, wenn „Crackers, das Wirtschaftskriminalitäts-Bekämpfungshuhn“ kam, bei Kindern und Jugendlichen wahnsinnig hoch lag). Es lag an… ach nein, das verrate ich besser nicht, das sollte man lesen.

TV NATION, von der hier leider lange nicht alle Beiträge dokumentiert und dar­gestellt sind, brachte eine Reihe total schriller und wilder, ja, phantastischer Re­portagen, die sowohl die Ungläubigkeit des Lesers als auch dessen Zwerchfell wiederholt auf die Probe stellen. Ein paar Beispiele gefällig?

  • Der Ku-Klux-Klan und die Rechtsradikalen der Aryan Nation sind unter den Normalbürgern innerhalb der USA zu Recht verhasst. Michael Moore fand, sie bräuchten mal einen Liebesbeweis, damit sie merkten, dass es auch US-Bürger gäbe, die sie mit Liebe von ihrem Hass heilen könnten. Wie ginge das besser, als einen multirassischen Chor zusammenzustellen und Liebesgesän­ge bei Klantreffen in Szene zu setzen und zu filmen…?

  • Dass die öffentlichen Strände der USA der Allgemeinheit zugänglich sein müssen, hatte sich offensichtlich nicht bis Greenwich/Connecticut herumge­sprochen, wo die Stadt einen weitläufigen Strandabschnitt nur mit einer speziellen Strandausweiskarte betreten lässt. Michael Moore beschloss, den D-Day der Normandie (1944) zu imitieren und startete die Invasion des Strandes von Greenwich…

  • Dass Schwarze überproportional oft von der Polizei in den Staaten angehal­ten und erniedrigt, verdächtig oder misshandelt werden, ist allgemein be­kannt. Es liegt natürlich daran, dass Schwarze grundsätzlich Verbrecher sind. Einen, den es besonders hart getroffen hatte, war Brian Anthony Harris, der solch eine Behandlung zu Unrecht schon Dutzende von Malen über sich hat­te ergehen lassen müssen. Moores Crew beschloss, ihm mit einer besonde­ren „Anti-Fahndungs“-Aktion zu helfen…

  • Erst im Jahre 1995, also nach 130 (!) Jahren, war der Bundesstaat Mississippi bereit, den 13. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung zu ratifizieren, jenen Artikel also, der die Sklaverei verbot. Warum war das wohl so? Und konnte man vielleicht kurz vor Abschaffung der Sklaverei noch mal rasch in Mississippi ein paar Sklaven kaufen? Michael Moore setzte eine Annonce in die Zeitung und ließ ein paar weiße Sklaven von einem schwarzen Sklaven­halter erwerben…

  • Rache am Chef üben für unzumutbare Arbeitszustände, für Schikanen und Ausnutzung? Rechtlich kaum einklagbar in einem Land, in dem eine „Hire- & Fire“-Mentalität herrscht. Aber unmöglich? Nein, sagte sich Michael Moore und startete eine Umfrage zum Thema Betriebssabotage. Unglaubliche Din­ge kamen ans Tageslicht. Eines davon war das Bekenntnis eines Disney-Mitarbeiters, der eines Tages einen Nazisoldaten überlebensgroß in die Ku­lissen malte, sehr zur Freude seiner Chefs…!

  • Werbemüll im Briefkasten kennt jeder. In dem Moment, als Mike einen Wer­bebrief eines der Misshandlung von Menschen überführten Polizisten im Briefkasten vorfand, kam er auf die Idee, doch selbst solche Werbeschreiben zu entwerfen und zu schauen, für wen am meisten gespendet werden wür­de. Zur Auswahl standen: Jeffrey Dahmer, ein geständiger Mörder, der rund ein Dutzend junger Menschen getötet und teilweise verzehrt hatte; Charles Keating, leitender Angestellter der Savings and Loan Association, die Tausen­de von Amerikanern um ihre Ersparnisse betrogen hatte, sowie Roy Sekoff, ein Berichterstatter von TV NATION mit Frau und einem liebreizenden klei­nen Baby. Na, wer mag wohl die meisten Spenden verbucht haben? Und warum…?

Dies ist nur eine kleine Auswahl der provokativen Themen in diesem Buch. Ganz zu schweigen von der irrwitzigen Aktion mit dem Klärschlammzug, den Heraus­forderungen an amerikanische Manager oder der Einstellung eines waschech­ten KGB-Spions, um herauszufinden, ob Richard Nixon ernsthaft tot ist. Ebenso soll nicht verraten werden, wie weit Michael Moore kam, als er versuchte, die sowjetische Atomrakete zu kaufen, die auch nach dem Ende des Kalten Krieges noch immer auf seine Heimatstadt Flint gerichtet ist. Und wie war das mit dem provokanten Kommunismus-Truck, der quer durch die Staaten fuhr und den Ab­schied vom Kommunismus besiegeln sollte? Oder wie gelang es Michael Moo­re, in Bosnien den Frieden herzustellen nur durch Pizza…?

Das alles sind zum Teil äußerst phantastische Ideen, die man im Fernsehen der USA schlicht nicht erwartet. Sie sind nicht ausschließlich satirisch, manche ha­ben einen äußerst galligen Unterton, doch meiner Ansicht nach lohnt es sich sehr, sie gelesen zu haben. Vieles davon würde man dem deutschen Fernsehen und insbesondere auch den deutschen Fernsehzuschauern sehr wünschen kön­nen. Denn der 1954 geborene Michael Moore zeigt hier eindringlich, dass die Unterprivilegierten durchaus nicht hilflos sind. Er engagiert sich für sie, er hat Träume und Visionen, und er ist provokativ genug, um diese Träume durchzusetzen und den Leuten ein Ventil zu verschaffen, das beispielsweise hierzulande fehlt.

Sicherlich, seien wir froh, dass wir keine 40 Millionen Obdachlosen haben. Sei­en wir froh über unser Sozialversicherungssystem, das in den Staaten seines­gleichen nicht hat. Aber vieles von dem, was Moore in dem Buch anspricht, existiert auch bei uns. Banken, die sich bereichern. Korrupte, abgehobene und realitätsferne Konzernchefs und Unternehmer, die ihre Angestellten ausbeuten. Himmelschreiende Skandale, den Missbrauch von Steuergeldern und Spenden, den Widerspruch zwischen dem Programm von Politikern und dem, was sie in ihren Wahlkreisen selbst praktizieren. Um nur einiges beim Namen zu nennen.

Das Buch macht nachdenklich, zum einen, und es macht vor allen Dingen ver­ständlich, warum Michael Moore einen Film wie „Bowling for Columbine“ dre­hen konnte und inzwischen durch seine Bücher und den Film „Fahrenheit 9/11“ so berühmt ist, dass man ihn nicht mehr ignorieren kann.

Seine Story begann mit dem „Märchen“ von TV NATION.

Vielleicht sollte man mit diesem Buch anfangen, das Phänomen Michael Moore zu verstehen, wie auch immer man zu ihm stehen mag. Es ist eine durchweg faszinierende Erfahrung.

© 2005 by Uwe Lammers

Ja, Michael Moore ist schon ein komischer Schrat. Aber ich habe noch Lesestoff von ihm stehen, und allein deshalb könnt ihr ganz sicher sein, dass ich beizeiten wieder von ihm erzählen werde. Und vielleicht – hoffen wir drauf – , also viel­leicht nur, schießt er sich ja auch auf diesen neuen Chaoten im Weißen Haus ein und produziert zu ihm ein Buch über die ganzen Trump-Absurditäten und den offensichtlichen Verfall der politischen Sitten in den USA, seit Donald Trump an die Regierung gekommen ist.

Ich meine, es gibt ja das geflügelte Wort, dass eine jede Nation die Regierung erhält, die sie verdient… aber Donald Trump hat wirklich niemand verdient, der Mann wäre echt besser in der Wirtschaft geblieben. Im Weißen Haus hat er mit seiner cholerischen, sprunghaften Ader echt gar nichts zu suchen. Ist meine Pri­vatmeinung, der man natürlich gern widersprechen kann.

Und da wir dieses Mal schon bei der Satire waren, bleiben wir einfach nächste Woche gleich darauf, wenn ich das zweite Album der Comicreihe „Baker Street“ bespreche. Das wird wieder amüsant, versprochen…

Bis dann, Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Und wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis er sich auch mal um Donald Trump kümmert… verdient hätte der Bürstenkopf im Weißen Haus es fürwahr!

2 Das war am 6. April 2016, als ich im Rezensions-Blog 54 über „Stupid White Men“ schrieb.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>