Liebe Freunde des OSM,

die Adaption von Romanvorlagen in Form von Comics ist immer eine knifflige Sache. Wir kennen das, beispielsweise, von der Heftromanserie Perry Rhodan, von der es seit Jahrzehnten wiederholte Adaptionsversuche gab. In der Regel gehen sie dort mit dem Romanstoff eher… frei um. Andere Beispiele ließen sich fraglos ebenfalls finden.

Natürlich zog auch Sherlock Holmes solche Epigonen an. Im Fall des vorliegen­den Werkes neigten die Pierre Veys und Nicolas Barral sogar dazu, ausgespro­chen satirisch zu Werke zu gehen. Nicht nur gerät insbesondere Holmes optisch zu einer bizarren Karikatur des legendären Detektivs aus der Baker Street, mehr noch lösen sich bei der Darstellung seine Deduktionsfähigkeiten in Wohlgefallen auf. Ohne vorweg greifen zu wollen – es ist höchst vergnüglich, auf welche gro­tesken Abwege Holmes gerät, wenn er zu erklären versucht, warum beispiels­weise ein Lord bei einer Segeltour jählings in die Themse gestürzt ist.

Seine Erklärung? „Stratosphärenballons!“

Die Wahrheit sieht vollkommen anders aus.

Oder man schaue sich an, wie Watson „die große Qualle“ rettet… vermeintlich ein obskurer Spitzname für Queen Victoria, für den Watson als Anti-Viktorianer (!) von schottischen Nationalisten gelobt wird… dem Arzt und „Eckermann“ von Sherlock Holmes hingegen ist die Königin nachgerade heilig, und diese schotti­schen Zwischenfälle erzeugen doch arge Verständigungsprobleme auch zwi­schen den Freunden.

Ah, ich mag überhaupt nicht mehr verraten, ich denke, ihr solltet euch anhand der Rezension selbst ein Bild machen. Und passt nur auf eure Zwerchfelle auf, ich garantiere für nichts.

Vorhang auf für:

Baker Street 1:

Sherlock Holmes fürchtet sich vor gar nichts

Piredda-Verlag

Von Pierre Veys & Nicolas Barral

2. Auflage, Berlin 2010

52 Seiten, geb.

ISBN 978-3-941279-35-3

Wir Phantasten wissen, dass Paralleluniversen manchmal etwas „tricky“ sein können und dass Personen, die wir vielleicht kennen, dort anders… nun… struk­turiert sind, als wir das üblicherweise gewohnt sind. Ein schönes Beispiel der phantastischen Literatur bietet ein Buch, das ich gerade lese und demnächst re­zensieren werde: „Der Quantenfisch“ von Paul Voermans (1996). Ein anderes liegt hier vor.

Allgemein als bekannt kann vorausgesetzt werden, dass der Leser dieser Rezen­sion die Neigung des Rezensenten zu Sherlock Holmes kennt. Es ist darum we­nig verblüffend, dass ich, als ich von diesem Comic hörte, unweigerlich eine ge­wisse Neugierde entwickelte und ihn mir jüngst kaufte. Und ich muss sagen, nach einer gewissen Eingewöhnungszeit habe ich selten so herzhaft über einen Comic gekichert, das letzte Mal wohl bei den RUSE-Comics von CrossGen.1

Schon die Vorbemerkung des Autoren- und Zeichner-Duos Veys (Story) und Barral (Zeichnungen) „Sehr frei inspiriert durch die Figuren von Sir Arthur Conan Doyle“ macht deutlich, dass dies hier nichts für Holmes-Puristen ist, sondern vielmehr für jene Leser, die ohnehin etwas für Holmes-Comics und deren filmi­sche Adaptionen (etwa den jüngsten Film „Sherlock Holmes“ mit Robert Dow­ney jr. und Jude Law) übrig haben. Wer mit solchen Maßstäben an diesen Comic herangeht und dabei vielleicht noch im Hinterkopf hat, dass die Autoren auch schon die Comicserie „Blake & Mortimer“ sehr originell durch den Kakao gezo­gen haben, der hat sein Zwerchfell für das, was hier kommt, schon gewappnet, und ich sage, es lohnt sich. Der Titel übrigens wird schon durch das Cover ad ab­surdum geführt und macht auf den Charakter der Geschichten aufmerksam, die man wirklich beim besten Willen nicht ernst nehmen kann.

Wir haben hier kein kompaktes Werk mit einer Storyline vor uns, sondern viel­mehr eine Art von Collection. Es gibt hier fünf Geschichten, die durchaus mit­einander durch gemeinsame Handlungselemente verknüpft sind, die sich aber schon auch einzeln goutieren lassen. Ich empfehle gleichwohl die Lektüre in der Reihenfolge. Schauen wir uns kurz die Inhalte an:

In „Zwischenfall auf der Themse“ werden Holmes und Watson in den vorneh­men Noris-Club gerufen, um das Rätsel aufzuklären, das Lord Beverage bei sei­ner Segeltour auf der Themse widerfuhr, bei der er sich unvermittelt und grundlos im Wasser wieder fand und gerettet werden musste. Während Holmes raffiniert auf „Stratosphärenballons“ als Urheber schließt, sorgt ein unerwarte­ter Besucher für eine andere Lösung…

In der Story „Ophiophobie“ machen wir die Begegnung mit dem etwas vertrot­telten Inspector Lestrade, der das Detektivgespann zu einem Toten lenkt, dem auf unbegreifliche Weise verstorbenen Colonel Norton, einem Helden des Sepoy-Aufstandes. Er ist offensichtlich vor Schreck an Herzschlag verstorben, was Holmes anfangs einigermaßen fragwürdig scheint. Holmes schließt nach eingehender Prüfung der Fakten aber gleichwohl auf Angst vor Schlangen als Todesursache. Aber dann gibt es auch noch einen indischen (!) Diener und ei­nen etwas debilen Sohn mit einer Gummischlange… hmm…

Mit „Tossing the Caber“ – eine traditionelle schottische Veranstaltung, in die­sem Fall Baumstammweitwurf – beginnt dann eine zusammenhängende Storyli­ne für die restlichen Geschichten. Holmes und Watson machen Urlaub in Schottland, doch selbst hier spürt sie der nervige Inspector Lestrade auf. Ein At­tentat auf Queen Victoria droht von schottischen Nationalisten. Eher widerwil­lig lässt sich Holmes auf diesen Auftrag ein, behindert durch Watson, der sei­nerseits durch einen – von Holmes heimtückisch herbeigeführten – Zwischenfall mit einer Qualle behindert wird. Watson sieht mit seinem verquollenen Gesicht auch wirklich zum Fürchten aus, was noch bedeutsam werden wird.

Es gelingt zwar auf abenteuerliche Weise, das Attentat zu vereiteln, aber Wat­son kommt auf diese Weise in den kuriosen Ruf, Queen Victoria als „große Qualle“ bezeichnet zu haben – was bei schottischen Nationalisten sehr gut an­kommt und sich zu einem „running gag“ entwickelt, sehr zu seinem Unwillen.

Das rote Pernambukholz“ setzt diese Handlungslinie direkt fort. Holmes und Watson sind noch immer mit Lestrade in Schottland und haben einigen Grund, sich vor der Nachstellung grimmiger schottischer Nationalisten zu fürchten (was dazu führt, dass Lestrade für den Rest der Episode mit einem Ritterhelm her­umlaufen muss… aber das erkläre ich nicht, das muss man gesehen haben). Stattdessen werden sie von Lestrades Bruder in einen Diebstahlfall hineingezo­gen. Bei dem Kaffee-Importeur Hugh MacKinnon wurde eingebrochen, und al­les Diebesgut bestand aus rotem Stoff. Die Spur führt in ein Museum in Edin­burgh, wo ein mächtiger Wandteppich eine Burg in Rot zeigt.

Was sich daraus ergibt, muss man wirklich gelesen haben, es handelt sich mit Abstand um die ausgefeilteste Story im ganzen Album, und hier stolpern wir dann schlussendlich auch über Holmes´ Erzfeind, Professor Moriarty, der hier eine Mischung aus Graf Dracula und Fred Astaire zu sein scheint… höchst origi­nell…

Den Abschluss macht dann „Lösegeld für eine Mumie“. Holmes und Watson sind einigermaßen gesund und munter, wenn auch mit angeschlagenem Gemüt wie­der zurück in London, als Lestrade ihnen die Nachricht überbringt, dass Profes­sor Moriarty eine Mumie aus dem Britischen Museum gestohlen hat und dafür ein Lösegeld in Höhe von 300.000 Pfund verlangt. Holmes entwickelt, am Schauplatz des Geschehens eingetroffen, anhand der Indizien eine interessante und raffinierte Theorie, wie der Raub ausgeführt worden sein kann. Watson ist da etwas pragmatischer, sehr zu Holmes´ Unglück…

Wer sich damit anfreunden kann, dass die Zeichnungen bisweilen etwas ver­knautscht wirken und zudem damit, dass eine deutliche Hassliebe zwischen Watson (der eher bäuerlich-pragmatisch und mitunter sehr gehässig gezeichnet wird) sowie dem extrem eitlen, leicht aufbrausenden, sehr neidischen und ziemlich arrogant charakterisierten Holmes den Stil des Comics generell prägt, wird sich mit diesem Album köstlich amüsieren. In der Tat sind die kleinen Ge­meinheiten, verbalen Sticheleien, hinterhältigen physischen Attentate und „Ra­cheaktionen“ sehr ausgeprägt (ich schweige ganz von der unglaublichen Mrs. Hudson!), und es ist anzunehmen, dass das in weiteren Alben der Reihe – sie ist auf fünf Hefte ausgelegt – noch zunehmen dürfte.

Ich werde mir die Folgebände mit Sicherheit zulegen, allein schon, um noch mehr über die abstrusen neuen Abenteuer von Holmes & Watson zu kichern. Für Hardcore-Holmes-Fans, wie ich sie mal bezeichnen möchte, also solche Fans, die alles von Holmes goutieren, ist das hier auf jeden Fall ein Muss!

© 2010 by Uwe Lammers

Doch, das ist eine ausgesprochene Attacke auf die Lachmuskeln der Leser. Ge­wiss, Holmes-Puristen haben damit vielleicht Probleme, aber dazu zähle ich nicht, wie ihr wisst. Ich konnte mich bekanntermaßen auch schon dafür erwär­men, dass Autoren wie Stephen Baxter Holmes in Science Fiction-Settings ent­führten2 oder andere wie Neil Gaiman den Detektiv gegen paranormale Wesen aus den Weiten von Lovecrafts Welten ermitteln ließen.3

In der nächsten Woche werden wir sehr viel bodenständiger und besuchen eine Galerie in einem einigermaßen unzutreffend benannten Roman. Wer mehr er­fahren will, findet in einer Woche hier die Einzelheiten.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu meine CrossGen-Rezensionen in Fanzine Baden-Württemberg Aktuell (BWA).

2Vgl. dazu den Rezensions-Blog 5 zu „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, 29. April 2015.

3Vgl. dazu den Rezensions-Blog 146 zu „Schatten über Baker Street“, 10. Januar 2018.

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