Liebe Freunde des OSM,
vor fünfzehn Jahren las ich das unten vorgestellte Buch und verfasste damals eine Rezension kritischer Natur, doch sollte das niemanden davon abhalten, das Werk heute zu suchen und zu goutieren. Ich wiederhole gern, dass ich hier aufgrund meiner doppelten Befähigung als studierter Historiker einerseits und als Autor seit mehreren Jahrzehnten vielleicht einen zu scharfzüngigen Maßstab angelegt habe. Viele Leser, die das Thema reizt, werden vermutlich sehr viel zufriedener aus der Lektüre auftauchen, als das bei mir damals der Fall war.
Der etwas nichts sagende Titel ist natürlich eine Anspielung auf den 20. Juli 1944, also das legendäre Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler, was in realiter fehlschlug und dazu führte, dass die innerdeutsche Opposition entlarvt und nahezu vollständig ausgelöscht wurde. Der vorliegende Roman geht von einem kontrafaktischen Ansatz aus: Das Attentat ist geglückt. Was geschieht dann am „21. Juli“, d. h. nach dem Anschlag? Bricht das Reich zusammen? Wird der Krieg nahtlos fortgesetzt? Was geschieht mit den anderen Oberen der NSDAP?
Nun, der vorliegende Roman vermag in dieser Hinsicht zu überraschen. Von Ditfurth spekuliert auf kontrafaktischer Basis die Fäden des „Was wäre, wenn…“ für die kommenden rund 10 Jahre voraus, was zu einer gründlich verwandelten Welt führt, in der der Kalte Krieg mit drei Nuklearmächten startet und Großdeutschland weiter besteht.
Aber dann kommt das Jahr 1953, und Stalins Leben steht auf der Kippe… und der Machtpoker beginnt. Wie das exakt ausschaut? Lest einfach weiter, dann erfahrt ihr Näheres:
Der 21. Juli
von Christian von Ditfurth
Knaur 62415
576 Seiten, TB
8.90 Euro, 2003
Wir schreiben das Frühjahr 1953. Josef Stalin, der Diktator der Sowjetunion ist gerade verstorben, in Moskau tobt der geheime Machtkampf zwischen seinen Nachfolgern, dem Geheimdienstchef Berija, Chruschtschow und Malenkow. Die Welt steht dicht vor einem nuklearen Abgrund, da sowohl die Sowjets als auch die Amerikaner über Atomwaffen verfügen. In dieser prekären Lage aktiviert der amerikanische Geheimdienst CIA einen deutschen Überläufer, der in der mexikanischen Wüste zurückgezogen lebt. Sein Auftrag soll lauten: töten Sie Heinrich Himmler!
Moment.
Moment.
Irgend etwas stimmt hier nicht, wendet der Leser der Rezension vielleicht ein. Himmler war doch längst nach dem Sieg der Alliierten über das deutsche Reich gefasst worden und hatte sich…
Vergesst das alles besser, wenn ihr in diesen Roman eintaucht, denn hier ist nichts dergleichen geschehen. Im Frühjahr 1953 beherrscht eine Regierung der Nationalen Versöhnung das Großdeutsche Reich, das am Rhein beginnt und bis zur Teilungsgrenze geht, die Stalin und Hitler in ihrem Geheimvertrag abgemacht hatten. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ist nach wie vor an der Macht, Heinrich Himmler und seine SS sind die heimlichen Herrscher Deutschlands, der Reichskanzler heißt Carl Friedrich Goerdeler. Reichspräsident ist Hermann Göring. Stauffenberg ist Chef des Heeres. Die Gestapo ist aufgelöst worden, Goebbels in Berlin seit vielen Jahren inhaftiert, wo er – angeblich – an einem Gedenkbuch über „Adolf“ schreibt…
Das geht jetzt zu schnell? Nun gut, schalten wir einen Gang zurück.
Am 20. Juli 1944 wird der Führer Adolf Hitler durch das Attentat der Staatsverschwörer um Stauffenberg in Stücke gesprengt. Unter Mitwissen und mit Billigung der SS-Führung. Daraufhin setzt ein faszinierender innenpolitischer Revisionsprozess ein, der von dem Historiker und Schriftsteller von Ditfurth beeindruckend plausibel in Szene gesetzt wird. Die kaltblütigen und klugen Köpfe der SS übernehmen das Kommando über die Wehrwissenschaften in Deutschland, die Wehrmacht wird umstrukturiert und die militärische Führung an den Fronten ausgewechselt, woraufhin die deutschen Soldaten gezielt zurückweichen. So wird der Krieg bis zum Mai 1945 hinausgezögert, lange genug, um eine Nuklearbombe zu entwickeln und die russische Stadt Minsk in eine Aschenwüste zu verwandeln. Die Kenntnis dieser Waffentechnik zwingt die Russen zum Waffenstillstand und treibt auch die Amerikaner schließlich vom Kontinent zurück. Europa wird deutsche Einflusszone. Der Kalte Krieg beginnt mit DREI Mächten.
Im Jahre 1953 ist die Lage prekärer denn je. In Amerika herrscht der Kommunistenfresser Joseph McCarthy als Präsident, der Machtkampf in Russland tobt, und beide Seiten buhlen geheim um die Gunst der deutschen Führung. Die eine Seite – die russische – braucht dafür Heinrich Himmler, die andere hingegen möchte ihn umbringen, weil nur so eine Verbindung mit Deutschland zustande käme.
Wie erreicht man sein Ziel? Die Amerikaner denken, indem sie den einstigen SS-Mann Knut Werdin aktivieren, der ihnen einst die Kenntnis von den deutschen Nuklearwaffen überbrachte. Was bringt ihn schließlich dazu, diesen Wahnsinnsauftrag anzunehmen? Ein Brief und ein Foto von einer jungen Frau aus Deutschland, Irma, die er tot geglaubt hat und die ihm ihren gemeinsamen Sohn präsentiert. Doch er ahnt nicht, dass er in eine großangelegte Falle laufen wird…
In dem Roman mit dem etwas irreführenden Titel, da der 21. Juli fast keine Rolle spielt, werden die Seiten 93-396 von den Ereignissen in den Jahren 1944/45 eingenommen. Er ist interessant aufgebaut und lebt insbesondere von der kontrafaktischen Ausgangslage, von den aberwitzig scheinenden Verbindungen von realer Nachkriegsgeschichte und NS-Kultur, die nebeneinander existieren (ich sage nur: Wirtschaftswunder und Wirtschaftsminister Erhard, außerdem ein „bayrisches Talent namens Franz Josef Strauß“!). Das machte auch für mich die eigentliche Antriebsfeder zum Lesen aus und brachte mich immerhin dazu, den Roman in acht Tagen durchzulesen.
Hinzu kam natürlich, dass ich mich gerade historisch mit dem Jahr 1953 beschäftigt hatte und Kontrafaktik immer schon gerne mochte. Hier zeigte sich außerdem noch, wie ein deutscher Historiker phantastische Romane schreiben konnte, ohne die Grenzen seiner Profession gänzlich zu verlassen. Aber er hatte es bei mir leider nicht nur mit einem Historiker zu tun, sondern auch mit jemandem, der schriftstellerisch nicht ganz unbeschlagen ist. Und während ich von Ditfurth in erster Kategorie attestieren muss, dass er sich in der Zeitgeschichte bestens auskennt und vernünftige und nicht sehr überzogene Fusionen zustande brachte, so gibt es in letzterer Hinsicht doch einige Kritik.
Nehmen wir die Charakterisierung der Personen. Viele von ihnen kommen über knappe Zeichnung kaum heraus, hätten sie aber fraglos verdient gehabt. Ich nenne jetzt hier keine Namen, damit sich der Leser ein Bild machen kann. Zweitens zeigt sich m. E., dass von Ditfurth mit der Darstellung von Frauen nur gelegentlich zurechtkommt. Zu viel mehr als Bettgespielinnen taugen sie in der Regel leider nicht, und das gilt auch für die weibliche Hauptperson Irma, die anfangs noch sehr warmherzig und sympathisch beschrieben wird und nachher in eine fast vollkommene Leerform abrutscht.
Drittens leidet der Roman unter einem „Prominentenüberschuss“, wie ich das nennen möchte. So reizvoll es sein mag, Personen der Zeitgeschichte agieren zu lassen, so sehr muss man sich hier doch vor einem Abgleiten in die Tradition der griechischen Historiker hüten. Historiker wie Herodot beispielsweise beschrieben die antiken Politiker und Feldherrn und deren Reden so, wie sie ihrer Meinung nach gewesen sein müssten. Von Ditfurth tappt beinahe in die gleiche Falle. Schlimmer noch als das ist aber die Tatsache, dass die anderen Personen neben ihnen beinahe bedeutungslos werden und dass in dem Großmachtpoker die eigentliche, lesernahe Geschichte, nämlich die Dreiecksgeschichte zwischen Irma, Werdin und dem Luftwaffenmann von Zacher beinahe untergeht. So wird die Story gegen Ende zunehmend blutleer, ja, fast schon menschenfeindlich.
Historische Kompetenz: hoch.
Unterhaltungskompetenz: ordentlich.
Soziale Kompetenz: noch ausbaufähig.
Ansonsten ein beeindruckender Roman.
© 2003 by Uwe Lammers
Ich erwähnte eingangs, dass ich hier etwas kritisch werte. Auch heute noch würde ich sagen, dass meine Wertung halbwegs gut ausgewogen war. Jemand, der kontrafaktische Stories und Romane bzw. Alternativwelten schätzt (etwa in der Form von Philip K. Dicks berühmtem Roman „Das Orakel vom Berge“ oder in Gestalt von Len Deightons „SS-GB“, das auch gerade als Serie eine Wiederauferstehung feiert), der ist hier goldrichtig. Das ist, würde ich sagen, ein schon recht vergessenes „Leckerli“, ein wenig an Robert Harris´ „Vaterland“ erinnernd.
In der nächsten Woche kehre ich mit euch indes nach New Orleans zurück, um mich wieder der erotischen Geheimorganisation S.E.C.R.E.T. zuzuwenden. Und ich verspreche: es wird aufregend. Das solltet ihr nicht versäumen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.