Liebe Freunde des OSM,
eine Warnung vorweg zur heutigen Lektüre – das ist diesmal keine leichte Kost, vertraut meinem Urteil. Das Büchlein, keine 200 Seiten stark, ist moralischer Sprengstoff philosophischer Natur, und seine Lektüre mag euch die Haare stärker sträuben als die übelsten Horror-Romane, die ihr kennt.
Warum?
Weil es ein selbst heute noch weitgehend tabuisiertes Thema aufgreift und ein Plädoyer aus eigenem Erleben führt: der Autor hat versucht, sich absichtlich aus dem Sein zu entfernen und wurde gegen seinen Willen ins Leben zurückgerufen. Woraufhin sich Jean Amery gezwungen sah, dieses Buch zu schreiben – nicht, um seine Handlung direkt zu rechtfertigen, als vielmehr ein Statement gesellschaftlicher Natur zu setzen und sich ausdrücklich FÜR den Freitod auszusprechen.
Den Suizid als ein Menschenrecht anerkennen?
Das ist harter Stoff, das fand ich 2001, als ich das Buch las, das mich bis heute in seiner Wirkung erschüttert, aber das war zweifellos schon Sprengstoff im Jahre 1976, als es veröffentlicht wurde. Es ist anzunehmen, dass es heutzutage nur noch Eingeweihten bekannt ist, aber in Anbetracht der zahllosen Todesmeldungen in den täglichen Nachrichten, den Selbstmordattentätern, die sich in die Luft sprengen oder Flugzeuge in Wolkenkratzer lenken – das alles sind Abarten dessen, was Amery anspricht – , in Anbetracht dieser Umstände in einer ziemlich arg brutalisierten Gegenwart scheint es mir wichtig, mal wieder auf dieses Werk hinzuweisen.
Es ist natürlich immer noch ein Abenteuer, dieses Buch zu lesen. Aber ich finde, für aufgeklärte, demokratische Geister sollte es zum Pflichtkanon gehören. Einfach deshalb, weil wir uns heutzutage viel zu leicht von den Medien und ihrem Gedanken-Mainstream einnorden lassen. Weil es zu bequem ist, schlicht zu glauben, was uns eingeredet wird.
Dass solche Leute verrückt sind. Dass man sie nicht verstehen kann. Dass es gefährlich ist, sich auch nur auf eine Diskussion mit solchen Menschen einzulassen.
„Mit Terroristen wird nicht verhandelt.“
„Mit diesen Verrückten reden wir gar nicht – es ist besser, sie gleich zu erschießen, dann ist die Welt wieder normal.“
Ihr merkt… das ist Ideologie, wenn man solchen Einflüsterungen glaubt. Dann diktiert allein die Angst unsere Handlungen. Von Verstehen ist da keine Spur mehr. Aber genau das brauchen wir – Verständnis. Wir müssen das, was wir nicht begreifen, hinterfragen, nicht ihm ausweichen, weil wir Angst davor haben. Nur dann haben wir eine Chance, die Dinge zum Besseren zu wenden.
Und welche Angst ist wohl größer als die vor dem Tod?
Nun, die Angst davor, dass es sinnvoll sein könnte, sich selbst zu töten.
Wer denkt, er möchte sich gern mit dieser Angst konfrontieren, der sollte weiterlesen. Aber beschwert euch nachher nicht – ich habe euch gewarnt. Es ist keine leichte Kost.
Hand an sich legen
Diskurs über den Freitod
von Jean Amery
Edition Alpha,
Ernst Klett-Verlag
132 Seiten, PB (1976)
„Es ist, als stieße man eine sehr schwere, in den Angeln ächzende, dem Druck widerstrebende Holztür auf, um ins Helle zu gelangen. Man wendet all seine Kraft auf, tritt über die Schwelle, erwartet nach dem Dämmergrau, in dem man stand, das Licht: statt dessen aber ist es nunmehr eine ganz undurchdringliche Finsternis, die einen umgibt.
Verstört und angstvoll tastet man um sich, erfühlt Gegenstände da und dort, ohne sie identifizieren zu können. Sehr langsam gewöhnt schließlich das Auge sich ans Dunkel. Ungewisse Konturen erscheinen, auch die tastenden Hände werden gescheiter.
Nun weiß man sich in jenem Raum, den A. Alvarez in seinem schönen Buch Der grausame Gott die geschlossene Welt des Selbstmords genannt hat…“
Jean Amery, der dieses Büchlein geschrieben hat, weiß genau, wovon er hier redet. Sehr genau. Er, der den Absprung aus der Welt des Seienden versucht hat und für seinen misslungenen Versuch, dem menschlichen Geist die Freiheit zurückzugeben, die freieste aller Entscheidungen zu treffen, mit 30 Stunden Koma und einem qualvollen Wiederanfang bezahlt hat.
So geht es in diesem furchterregend faszinierenden und sprachlich durchaus anregenden Buch nicht nur um eine Erklärung, warum es Menschen gibt, die sich mit der Welt in all ihrer Herrlichkeit nicht anfreunden können, sondern es geht insbesondere um ihn selbst. Es ist, wenn man so will, eine Art von Selbst-Psychoanalyse, die Amery hier betreibt, zugleich eine Apologetik der Verlorenen und von der Gesellschaft Verstoßenen, die in der eigenen Seelenqual ertrinken, ohne dass das von der Umgebung überhaupt zur Kenntnis genommen wird.
Der Schweizer räumt sehr direkt auf mit dem Vorurteil, Menschen, die „Suizid“ begehen, sich „selbst ermorden“ – er vermeidet diese Bezeichnungen, wo es geht und verwendet statt dessen das direktere und deutlicher intendierende Wort „Freitod“ – , seien psychisch gestört, würden gewissermaßen die Welt nicht richtig einzuschätzen wissen und sich aus „nichtigsten Anlässen“ umbringen. Etwa wegen gekränkter Ehre (bei Soldaten und Politikern vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte überaus häufig) oder aus enttäuschter Liebe (ein allzeit bekanntes Phänomen) und ähnlichen. Selbst die Erscheinung, die heutzutage allenthalben im Radio und in den Zeitungen Furore macht, die nämlich, dass ein Mann seine Kinder und Frau und dann sich selbst tötet, wenn die Frau ihn z. B. verlassen will, kann Amery hier gut als einen Seitenzweig des Freitodes einstufen und partiell erklären.
Zunächst geht es ihm darum, darzustellen, wie die psychische Befindlichkeit des „Suizidanten“ sein muss, um überhaupt in die Lage zu kommen, daran zu denken, sich selbst zu vernichten. Den Schluss, zu dem er kommt, ist für viele sicherlich durchaus beunruhigend: jeder steht im Leben irgendwann einmal vor der Schwelle, „vor dem Absprung“, wie er es im gleichnamigen 1. Abschnitt nennt. Manchmal entscheiden nur Sekunden, ob man sich vom Hochhaus stürzt oder mit Betäubungsmitteln das Leben nimmt, hin und wieder aber lebt man, zunehmend depressiver werdend, direkt auf den entscheidenden Punkt hin. Die wichtige Erkenntnis ist aber, dass man den Selbstmord nicht als ein Phänomen einer „Randgruppe“ der Gesellschaft marginalisieren kann. Er ist es nicht.
Das und der Umgang der Gesellschaft mit dem Tod allgemein führt Amery im 2. Abschnitt des Buches zu der Frage, „wie natürlich der Tod“ sei. Hier spürt man sehr deutlich seinen Grimm, der nicht zu geringen Teilen auf jene Ärzte gerichtet ist, die ihn gegen seinen ausdrücklichen Willen ins Leben zurückriefen. Und der Autor klagt eine Doppelmoral an: die Gesellschaft nämlich, der der einzelne Mensch, solange er „funktioniere“, völlig gleichgültig sei, die sich aber wütend und fast feindselig gegen ihn wende und ihm „zum Leben zwinge“, sobald er versuche, ihr per Freitod zu entfliehen.
Der dritte Abschnitt, „Hand an sich legen“, der dem Buch den Titel geliehen hat, vertieft dies auf beinahe makabre Weise. Amery wendet sich prominenten Selbstmördern zu, beschreibt zum einen ihre ganz private Lebensverzweiflung, die von dem Außenstehenden, der allgemein dem Leben zugeneigt ist, nicht verstanden werden kann (es sei denn, dieser Außenstehende stehe selbst auf der Schwelle, was dann freilich ein Sonderfall sei), zum anderen zählt er einen beunruhigenden Countdown, gespeist aus eigenen Erfahrungen vor SEINEM misslungenen Suizid, der anfangs noch nach Stunden zählt und die qualvollen Innenreflexionen zeigt, bis schließlich nur noch Minuten und Sekunden übrig sind. Und dann…
…nennt er es im Abschnitt 4 „Sich selbst gehören“. Hier pocht er darauf, dass der Mensch de facto vor allen Ansprüchen der Gesellschaft fundamental in erster Linie sich selbst gehört, womit er gegen die Psychologie, die Religion und das allgemein gültige Rechtsempfinden solipsistisch argumentiert und sich aufs reine Ich zurückzieht. Er hat Grund dazu, und so sehr man über seine Worte streiten kann, so sehr WEISS Amery doch, was er sagt. ER hat es versucht, ER wollte der Welt des Hier und Jetzt, der Welt des Seins schlechthin, den Rücken kehren, aus Motiven, die er freilich nicht in aller Breite darlegt, weil sie zu privat sind. Er plädiert dafür, deutlich auszusprechen, dass jeder Mensch das fundamentale RECHT habe, sich dafür zu entscheiden, sich das Leben zu nehmen, wenn er damit dem, was ihn ohnehin irgendwann erwartet, dem Tod nämlich, der ihn womöglich erst nach jahrelangem Siechtum und Erniedrigung erwartet, zuvorkommt…
Ich musste hier schaudernd an meinen alten Herrn Klose denken, der, 98jährig, nach drei Schlaganfällen weitgehend immobil, jeden Tag mehr oder weniger dahinvegetiert und lieber heute als morgen sterben würde. Verständlicherweise konnte ich ihm von diesem Buch nicht erzählen. Es hätte ihn noch depressiver gemacht.1
Aber als ich dieses Buch las, das fast sieben Jahre lang ungelesen in meinem Regal stand, da gab es natürlich einen aktuellen Anlass dafür: den Freitod meines Patenonkels im Januar dieses Jahres.2
Es ist eine Sache, mit dem Tod konfrontiert zu werden, wenn man ihn im Fernsehen sieht, in Zeitungen davon liest oder in Romanen damit zu tun hat. Es ist etwas völlig anderes, wenn man so nah davon gestreift wird, auf solch eine Weise und von jemandem, dem man es nicht zugetraut hätte. Gut, mag man sagen, er war Alkoholiker, gut, er hatte Glasknochen und schon mehrere Herzoperationen hinter sich. Er lebte in einer Beziehungskrise und hatte keine Kinder…
Dennoch…
Amerys Gedanken helfen in diesem Fall dabei, sich daran zu gewöhnen, dass dies ein völlig normales Schicksal ist. Jährlich sterben weltweit Zehntausende eines vorzeitigen, selbst bereiteten Todes, aber nach wie vor ist das Thema Suizid – meist religiös bedingt – tabuisiert und wird eher totgeschwiegen. Die Gesellschaft drängt Menschen, die einen Selbstmordversuch gemacht – man müsste sagen: GEWAGT – haben (denn es bedarf einer unglaublichen Anstrengung dazu, wie Amery richtig sagt, weil der Körper bis zum letzten Atemzug um sein SEIN kämpft und nicht sterben will!), in Therapien und will sie um jeden Preis im Hier und Jetzt halten.
Auch wenn ich manchmal anderer Ansicht war als der Autor, habe ich doch sehr klar begriffen, wie viele bestürzend klare und logische Gedanken dieses Buch enthielt und wie intensiv er philosophisch, literarisch und theoretisch belesen war, um jedes mögliche Gegenargument zu entkräften.
„Hand an sich legen“ ist ein Plädoyer der Menschlichkeit gegenüber dem Individuum, dessen Essenz sich wohl am besten in dem Fazit ausdrücken lässt: Wenn man wirklich ein Anhänger des freien Willens eines jeden Menschen ist, muss man auch akzeptieren lernen, dass Menschen manchmal finale Entschlüsse fassen, die man nicht begreift. Und dann sollte man sie nicht verdammen noch aufhalten, sondern ihnen eher dabei helfen, wenn sie es ausdrücklich wünschen.
Doch so weit sind wir selbst 25 Jahre nach dem Verfassen dieses Buches nicht.
Bedauerlicherweise?
© 2001 by Uwe Lammers
Okay, Freunde, ihr könnt wieder durchatmen. Das finstere Tal Amerys ist durchschritten, und ich hoffe, ihr gehört zu jenen lebensbejahenden Typen, für die der Moment des Absprungs noch recht fern ist. Doch seid versichert, dass ich selbst, der ich in den zurückliegenden siebzehn Jahren eine Menge liebe Menschen verloren habe (einen davon durch Suizid), jedes Verständnis habe für solche Personen, die diesen Weg wählen. Ich selbst würde ihn in absehbarer Zeit kaum nehmen – dafür habe ich im Hier und Jetzt immer noch viel zu viel vor. Aber wer weiß, irgendwann vielleicht… es ist ein Menschenrecht, Schluss zu machen, wenn wir Amerys Worte ernst nehmen. Und jetzt ist der Gedanke daran auch in euren Köpfen.
Dennoch, in der kommenden Woche reisen wir wieder in eine Romanwelt, diesmal eine bizarre Parallelwelt, die mich als Historiker mit Staunen erfüllte. Wer neugierig ist, folge mir nächste Woche dorthin.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Nachtrag UL: Er starb dann eines natürlichen Todes am 8. März 2003 im Alter von fast 101 Jahren.
2 Gemeint ist hier natürlich das Jahr der Abfassung, d. h. 2001.