Liebe Freunde des OSM,
Erstkontakte sind etwas, was in der Science Fiction immer wieder vorkommt. Das ist gewissermaßen Teil der strukturellen DNS des Genres, könnte man sagen, es ist eingeschrieben in die Grundidee der Science Fiction, wie eben auf der anderen Seite auch Raumschiffe, fremde Welten und ferne Galaxien. Aber in sehr vielen Fällen, namentlich natürlich in der filmischen SF, greift man üblicherweise auf menschenähnliche Aliens zurück. Das hat zum einen mit der rein technischen Tatsache zu tun, dass aufwändige Tricktechnik halt immer noch teuer ist, zum zweiten ist es schlicht eine Frage der Akzeptanz.
Wie meine ich das? Nun, so aufgeklärt wir Phantasten uns auch geben und so gerne wir den Topos des Erstkontaktes sowohl als Leser wie auch als Autor bedienen… im tiefsten Inneren geht es doch um etwas anderes, nämlich um das Fremde an sich, und das kann verschiedenste Formen haben. Es hat, philosophisch gesprochen, mit etwas zu tun, was man Intersubjektivität nennt. Menschen sind nun einmal in ihrem Kopf als einsame Wesen eingeschlossen und müssen die Wesen um sie herum, mögen sie nun tierischer oder menschlicher Natur sein, mühsam entschlüsseln anhand ihrer Reaktionen. Mimik, Gestik, verbale Kommunikation, Gerüche und Handlungen – das alles versetzt uns letzten Endes in die Lage, soziale Wesen zu sein und so etwas wie ein Gesellschaftsleben zu entwickeln.
Erstkontakte in der Science Fiction sind in vielen Fällen darum nach außen projizierte Konfliktsituationen, die ebenso im zwischenmenschlichen Bereich auftreten können. Und wir müssen uns nicht fremdenfeindliche Parteien oder die Nazis anschauen, um zu wissen, dass das Fremde für die Majorität unserer Mitmenschen Furcht einflößend ist und verunsichernd wirkt.
Nicht allein deshalb lieben wir Science Fiction und die Begegnung mit fremden Lebensformen, unbekannten Zivilisationen. Und deshalb enttäuschen uns oftmals die humanoiden Aliens in Star Trek, Star Wars & Co. Wirklich FREMDES zu erschaffen, das fällt uns überwältigend schwer, die Akzeptanz dessen noch wesentlich schwerer.
In dieser Hinsicht fand ich den Versuch des deutschen Autors Frank Schätzing unglaublich packend und gelungen, das Fremde eben nicht irgendwo zwischen den Sternen zu suchen, sondern hier bei uns auf der Erde. In einem bis heute weitgehend unerforschten, kryptischen Lebensraum, den Tiefen des Ozeans.
Er ging noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er nämlich die Herausforderung des Fremden an sich tatsächlich ernst nahm und eine zutiefst fremdartige Macht erschuf, die sich anschickte, der Menschheit auf unbegreifliche Weise den Krieg zu erklären.
Heraus kam ein Bestseller, an den ich auch nach fast 15 Jahren immer noch gern denke. Wer ihn damals nicht gelesen haben sollte, weil er dachte „Oh Gott, was für ein Schinken! Tausend und mehr Seiten! Das kann man doch überhaupt nicht lesen…!“, dem ist eindeutig etwas entgangen. Denkt bitte an mein Diktum, dass gute Romane stets zu kurz sind, ganz egal, wie umfangreich sie ausfallen. Das ist hier ganz genauso.
Und dann schlagt die erste Seite auf und beginnt mit dem Lesen. Wer ein wenig Vorwärmzeit braucht, sollte sich meine damalige Rezension zu Gemüte führen, die deutlich kürzer ausgefallen ist. Also einfach weiterlesen:
Der Schwarm
von Frank Schätzing
Kiepenheuer & Witsch
6. Auflage, 2004
1012 Seiten, 24.90 Euro
Die Frage nach fremder Intelligenz treibt die Menschheit seit Jahrtausenden um, und stets wurde sie dort vermutet, wo noch niemand gewesen war. Folgerichtig: auf unbekannten Erdteilen, in dampfenden, undurchdringlich scheinenden Dschungeln, später auf entlegenen Inseln, in abgeschiedenen Bergtälern, schließlich in den Weiten des Kosmos, aus der viele Menschen händeringend fremde Intelligenz ersehnen.
Doch es gibt einen Ort, der für uns Menschen fremder ist, als es die fernen Gestirne am Firmament sein können und über dessen Fremdartigkeit und Tödlichkeit wir uns üblicherweise nicht im Klaren sind.
Diese unbekannte, nahe Welt ist der Ozean.
Wir sehen nur die Oberfläche davon und die Säume des Kontinentalschelfs, die mäßig erforscht sind. Doch Milliarden von Kubikkilometern Meerwassers sind in für uns fast undurchdringliche Finsternis gehüllt, gefüllt mit Lebensformen, von denen wir nur sehr wenig bislang gesehen haben. Viele werden uns vielleicht für immer verborgen bleiben. Das Meer dient der überproportional wachsenden Menschenbrut als Ressource, als Becken, das man leer fischen kann, als Müllkippe, als Ort, mit dem man alles anzustellen wagt, was an Land mangels Platz nicht mehr möglich ist oder von den Gesetzen und Umweltschützern zu stark verfolgt wird.
Das gilt auch heute noch.
Bis jetzt.
Irgendwann zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschwindet vor der peruanischen Küste ein Fischer spurlos. Ein bedauernswertes Unglück, zweifelsohne. Auch wenn er ein erfahrener und kundiger Fischer war. Unglücke geschehen nun mal, nicht wahr?
Vor Vancouver Island bleibt die alljährliche Walwanderung aus. Prompt tritt eine Gruppe aus dem Schatten der Unbekanntheit, die einem Whale-Watching-Unternehmen vorwirft, sie hätten die Wale verscheucht, ja, geradezu missbraucht. Was nicht gerade für ein besseres Klima sorgt.
In Norwegen beginnt die Firma Statoil mit der Planung einer untermeerischen Fabrik, die dort in mehreren hundert Metern Tiefe auf dem Kontinentalschelf Ölvorkommen explorieren und ausbeuten soll. Bei den Erkundungen auf dem von Methanhydrat durchsetzten Kontinentalsockel stoßen die Tauchboote überraschend auf eine neue Form von Tiefseewurm, der sich zu Millionen auf dem Hydrat tummelt.
Dies sind nur ein paar seltsame Mosaiksteine der Geschichte, und es dauert Wochen und Monate in der Romanhandlung, bis die maßgeblich Verantwortlichen zu begreifen beginnen, dass hier irgendetwas furchtbar falsch läuft.
Als etwa die Wale wieder erscheinen, beginnen sie unvermittelt mit brutalen Attacken gegen die Menschen, wobei sie sich auch noch mit anderen Meereslebewesen verbünden. Selbst Frachtschiffe werden angegriffen. Neue Lebensformen wie extrem schnelle, mobile Muschelschwärme treten in Erscheinung. In Nordamerika überfallen Millionen Tiefseekrabben die Küstenstädte. In Frankreich explodieren mit Toxinen gefüllte Hummer. Mutierte Quallen machen Strände unbegehbar. Die Fischschwärme verschwinden, die Fischereiwirtschaft bricht in sich zusammen. Und an allen Kontinentalhängen erscheinen zugleich Myriaden jener rätselhaften Tiefseewürmer, die das Methanhydrat attackieren und zu destabilisieren beginnen.
Methanhydrat, unter anderem ein Resultat abgesunkener organischer Schwebstoffe, die in der Tiefsee in frierendem Meerwasser unter hohem Druck gebunden werden, ist ein gigantischer Energielieferant und potenzieller Kandidat für eine Energieversorgung einer nahen Zukunft, in der es keine fossilen Brennstoffe mehr gibt. Das ist die eine Seite des Methanhydrats, das bislang nicht abbaubar ist. Es ist aber zugleich imstande, im Falle der Destabilisierung großflächige Meeresbodenrutschungen auszulösen. Diese wiederum erzeugen Seebeben und Tsunami-Wellen von unvorstellbarer Stärke. Jählings sind alle Küstenstädte der Menschheit von der vollständigen Vernichtung bedroht, und niemand weiß, wieso und weshalb.
Im Wettlauf mit der Zeit gelingt es einem Wissenschaftlerteam schließlich, ein Muster in all dem zu erkennen, und es ist ein Furcht erregendes Muster: denn es deutet auf die Existenz einer zweiten intelligenten Spezies auf diesem Planeten, einer Lebensform, die perfekter mit Biotechnik umgehen kann als es die Menschheit vermag – und diese Rasse sitzt in der perfektesten Festung der Erde: in der Tiefsee.
Der Countdown zur Auslöschung der Menschheit läuft, und nichts scheint ihn mehr stoppen zu können, weil man mit dem Gegner weder kommunizieren noch ihn überhaupt VERSTEHEN kann…
Frank Schätzing, bekannter Schriftsteller des Mittelalter-Romans „Tod und Teufel“ (1996) hat mit diesem rasanten, einfallsreichen und zum Teil außerordentlich beklemmenden Feldzug der Natur gegen die Menschen ein Buch geschrieben, das dem Leser auf beispiellose Weise vor Augen führt, auf welch schmalem Grat wir alle wandeln, die wir uns in dieser Welt aufhalten und wie wenig wir eigentlich von ihr und den biologischen Kreisläufen der Erde wissen. Der Kern des Romans ist ein klassischer SF-Topos, nämlich der Erstkontakt, und ich muss gestehen, selten ist er desillusionierender gewesen als hier. Selten trat die Borniertheit des sogenannten „homo sapiens“ nachdrücklicher in Erscheinung als auf diesen Seiten.
Liebevolle Charakterzeichnungen, intensive Recherchen beispielsweise bei dem Leben und der Mythologie der Inuit und der Indianer British-Columbias werden unterstützt von zahllosen Belegen für gute Kenntnis im Bereich der Mikrobiologie, der Ozeanografie, Geologie und zahlreicher anderer Felder. Das macht das Buch für einen Leser wie mich, der über diese Themen aus Sachreportagen schon eine Menge weiß, überaus lesenswert.
Schätzing scheut sich auch nicht vor ziemlich eindeutigen Aussagen. So hat er sehr wenig übrig für die amerikanische Führung, das kommt im Buch sehr gut herüber. Der von einem messianischen Heilskomplex besessene Präsident, der sich von seiner charismatischen und innerlich eiskalten Generalin Judith Li (die Figur ist, wie Schätzing in einem Playboy-Interview erklärte, auf der Grundlage der Biografie von Condoleeza Rice entwickelt worden!) umgarnen und lenken lässt, ist nur zu deutlich mit George W. Bush jr. zu assoziieren. Auch die sturen Militärs und den ekelhaften Geheimdienstchef Vanderbilt, all diese Personen kann man sich nur zu gut vorstellen. Ähnliches geschieht auf der Seite der Wissenschaftler, ob wir nun den Walforscher Anawak nehmen, den norwegischen Wissenschaftler Johanson, die Umweltaktivistin und Biologin Delaware, die SETI-Forscherin Crowe… Die Leute wachsen einem durchaus ans Herz, mit anderen verbindet den Leser eine immer inniger werdende Abneigung.
Und dann sind da natürlich die Schockeffekte. Wenn z. B. die Angriffe stattfinden, Angriffe, die stets auf Furcht erregende Weise doppelte Böden besitzen, Tarnmanöver sind, unglaubliche Wendungen enthalten… Und Hauptpersonen sterben. Ich verrate natürlich nicht, welche, ich verrate nicht, wie es geschieht oder wann. Das muss man lesen.
Am Ende enttäuscht Schätzing den Leser… nun, sagen wir, FAST. Ein paar Seiten lang dachte ich, er täte es. Aber dann reißt er das Ruder auf eine faszinierende Weise herum und verpasst der Menschheit einen mächtigen Denkzettel. Das ist sehr lesenswert.
Allein, was ich mir gewünscht hätte, das wäre ein wenig mehr Glück im Buch gewesen, insbesondere für die Frauen. Obwohl das vermutlich nicht intendiert war, hat der Autor hier eine Schwäche offenbart, etwas, woran er zu arbeiten hätte. Die Leserin wird es fühlen, denke ich. Ich fand die Art und Weise, wie Schätzing das Glück der Frauen behandelt, doch etwas sehr bedauerlich. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Ansonsten jedoch enthält das Buch unglaublich viele Anregungen und ist für jeden Phantastik-Autor, der sich mit wirklich fremdartigen Erstkontakten beschäftigt, meiner Ansicht nach absolute Pflichtlektüre. Selten habe ich einen Erstkontakt und seine Problematik so gut beschrieben gefunden wie in diesem Roman. Und nebenbei lernen wir viel über jenen fremdartigen, fast unbegreifbaren Kosmos in den Tiefen der Ozeane, von dem wir eigentlich noch gar nichts gesehen haben.
Dies ist die Zukunft – und niemand von uns kann sagen, was die Menschheit dort erwartet. Und ob da nicht wirklich jemand ist, der uns beobachtet…
© 2004 by Uwe Lammers
Neugierig geworden? Ich sagte ja, es lohnt sich, diesen Roman zu verschlingen… und glaubt mir, nach spätestens 200 Seiten kommt ihr gar nicht mehr raus, und die Länge des Textes spielt dann echt keine Rolle mehr.
Ähnlich packend wird das übrigens in der kommenden Woche, wo es in einem sehr viel kürzeren Roman um bodenständigere Themen geht. Juan Cabrillo hat einen Gegner, der auch der Phantastik entsprungen sein könnte – nichts Geringeres nämlich als metallene Riesenschlangen.
Was das konkret heißt? Nun, da müsst ihr schon nächste Woche wieder reinschauen, da wird jetzt nicht gespoilert.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.