Liebe Freunde des OSM,
nun, im Jahre 2006, als ich die unten stehende Rezension verfasste, befand ich mich in ganz derselben Lage wie alle anderen Harry Potter-Leser weltweit auch, nämlich gewissermaßen in vorderster Front, mit den Hufen scharrend und nach der Fortsetzung hungernd. Allerdings, das wird aus der Rezension ebenfalls deutlich werden, fand ich es vermutlich nicht ganz so drängend wie viele andere Leserinnen und Leser.
Der Grund dafür lag auf der Hand: Meine HP-Leidenschaft war schon deutlich abgeflaut seit Lektüre von Band 4, und die diesmalige Lektüre – und weitere Verzögerung der Direktkonfrontation zwischen Harry und Voldemort einerseits und den Todessern und der Menschheit andererseits – zeigte mir einmal mehr, dass nachlassende Leidenschaft genau die richtige Methode war, um mit der Verzögerung klarzukommen, mit der der siebte Band sich nun erst langsam ankündigte.
Ich weiß, das lässt sich heutzutage, wo alle Bände vorliegen, vielleicht nur schwer nachvollziehen, aber damals war das nun mal so. Überdies gab es ja mehr als reichlich andere Lektüre für mich in meinen Bücherregalen. Gleichwohl fühlte ich mich verpflichtet, wo ich doch nun schon fünf Bücher der Serie rezensiert hatte, dies auch mit dem sechsten Band zu tun.
Nun, und das hier kam dann dabei herum:
Harry Potter und der Halbblutprinz
(OT: Harry Potter and the Half-Blood Prince)
von Joanne K. Rowling
Carlsen-Verlag, 2005
660 Seiten, TB
Übersetzt von Klaus Fritz
Der Leser, der mit der Harry-Potter-Reihe vertraut ist, hat die leidvolle Erfahrung gemacht, dass nicht nur die Protagonisten reifen und die Schwierigkeitsgrade der Prüfungen kontinuierlich steigen, die die Schüler absolvieren müssen, sondern auch, dass die Zumutungen an die Leserschaft höher werden. Es kann natürlich gar nicht anders sein, wenn man sich die Geschichte genau besieht: im Band 4 kehrt der finstere Lord Voldemort zurück und beginnt damit, seine treuen Todesser um sich zu scharen, so dass die Leser den ganzen fünften Roman, halb hoffend, halb bangend, darauf lauern, dass nun der Krieg endlich beginnen würde.
Doch er begann nicht. Die Autorin ließ sich Zeit.
Stattdessen mauerte das Zaubereiministerium in einer stumpfsinnigen Vermeidungshaltung, erklärte Harry Potter als Überbringer der schlechten Nachricht und dann auch den Schulleiter von Hogwarts, Albus Dumbledore, für geltungssüchtig oder senil… bis schließlich die schrecklichen Ereignisse um die Prophezeiung und der Kampf von „Dumbledores Armee“ sogar im Innern des Ministeriums gegen die flüchtigen Todesser und den Dunklen Lord selbst dazu führten, selbst die hartnäckigsten Zweifler zu überzeugen.
Zu spät.
Das half Harry Potters Paten, Sirius Black, nicht mehr. Er fand im Kampf den Tod, ermordet von der Todesserin Bellatrix Lestrange, und erst postum wurde er rehabilitiert. Was Harrys Erbitterung natürlich nicht lindern konnte. Nun jedoch wussten alle, was die Stunde geschlagen hatte: die Dementoren des Zaubereigefängnisses von Askaban hatten inzwischen ebenfalls die Seiten gewechselt, Chaos und Hysterie begannen sowohl in der Muggelwelt als auch in der Welt der Zauberer zu grassieren, Hogwarts bereitete sich auf die Verteidigung vor.
Unter diesen düsteren Vorzeichen beginnt der sechste Band um die Abenteuer des Zauberjungen Harry Potter.
Wieder einmal ist der inzwischen sechzehnjährige Waise daheim bei seinen Pflegeeltern, den Dursleys im Ligusterweg, einer typischen Muggelfamilie. Und diesmal – im Gegensatz zum vergangenen Buch – erhält Harry über die magische Zeitung, den Tagespropheten, reichlich Informationen aus der magischen Welt: über verschwundene Zauberer, magische Attacken. Dementoren, die Nachwuchs ausbrüten und damit die Witterung durcheinanderbringen sowie allgemein eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und Verstörung erzeugen. Das Zaubereiministerium nimmt Personen fest, die unter dem Verdacht stehen, Todesser zu sein…
Der Krieg hat begonnen, unwiderruflich.
Was Harry indes NICHT weiß, ist, wie weit sich das schon ausdehnt: selbst der „Muggel“-Premierminister in Downing Street 10 bekommt überraschend Besuch von seinem „Kollegen“, dem Zaubereiminister Cornelius Fudge. Es ist nur sein Abschiedsbesuch, er soll seinen Nachfolger Rufus Scrimgeour vorstellen und darüber aufklären, dass die Katastrophen in der Menschenwelt im Wesentlichen durch einen magischen Krieg in IHRER Welt verursacht werden.
Und Severus Snape, seines Zeichens Zaubertranklehrer an der Hogwarts-Schule für Zauberei und Intimfeind von Harry Potter, erhält Besuch von zwei Todesser-Frauen, darunter die Mutter von Draco Malfoy.
Das ist keineswegs alles, was geschieht – unvermittelt taucht Albus Dumbledore bei Harrys Pflegeeltern auf und holt ihn ab. Dabei registriert der Junge bestürzt, dass Dumbledores rechte Hand schwarz ist und wie verbrannt aussieht, wie tot. Der Schulleiter löst dieses Rätsel erst recht spät. Das sei jetzt noch nicht wichtig.
Harry soll einen neuen Lehrer anwerben helfen, was schließlich auch gelingt – nämlich den etwas schrulligen Horace Slughorn. Danach liefert Dumbledore den jungen Zauberer bei der Familie Weasley ab, wo Harry immer Weihnachten verbringt. Was diesmal äußerst abenteuerlich wird – denn hier stolpert er unvermittelt über Fleur Delacour, die Kandidatin der Zaubererschule Beauxbaton für das Trimagische Turnier.1 Sie, die von der jungen Ginny Weasley schlicht abwertend „Schleim“ genannt wird, und Bill Weasley wollen heiraten. Außerdem trifft Harry auf Angehörige des Ordens des Phönix, insbesondere Nymphadora Tonks, die sich seltsam verändert haben.
Ein Besuch in der Winkelgasse führt sie zu dem neuen Laden von Fred und George Weasley, zu den „Zauberhaften Zauberscherzen“, und Harry entdeckt, dass sein Intimfeind Draco Malfoy vom Haus Slytherin ganz offenkundig einen hasserfüllten Plan ausbrütet. Was natürlich kein Wunder ist – hat doch Harry seinen Vater, einen bekennenden Todesser Lord Voldemorts, im vergangenen Roman nach Askaban verbracht.
Hogwarts wartet, nachdem schon die Ankunft zum schmerzhaften Drama gerät, mit schrecklichen Überraschungen auf. So entpuppt sich Horace Slughorn entgegen aller Erwartung NICHT als der neue Lehrer für die „Verteidigung gegen die dunklen Künste“, sondern er übernimmt das Fach der Zaubertränke. Und DESSEN Lehrer wird nun, wie er es schon viele Jahre wollte, Lehrer für die Verteidigung gegen die dunklen Künste – niemand Geringeres als Severus Snape! Snape, der einstige Todesser und Parteigänger Lord Voldemorts, der Harrys Vater James in seiner Jugend inbrünstig hasste…
Als Harry dann auch noch durch einen Zufall im Zaubertrankunterricht ein gebrauchtes Buch erhält, das einem ominösen „Halbblutprinzen“ gehört hat und voll ist mit Randanmerkungen, Perfektionierungen von Zaubertränken und furchtbaren Flüchen, da steckt er bald mitten in den schönsten Schwierigkeiten. Zwar steigt er dank dieser unerwarteten magischen Hilfe bei Professor Slughorn zum Klassenprimus auf, verscherzt es sich aber gründlich mit seiner guten Klassenkameradin Hermine Granger, die die Anwendung von solchen Randanmerkungen als Schummelei und unlauteren Wettbewerb betrachtet. Auch hält sie den „Halbblutprinzen“ sowieso für eine finstere, gefährliche Gestalt. Leider behält sie damit sehr Recht.
Außerdem ist Harry Potter dieses Jahr Kapitän der Quidditch-Mannschaft des Hogwarts-Hauses von Gryffindor und erhält, sehr zu seiner Überraschung, Privatstunden von Dumbledore, in denen er sehr viel über die Vergangenheit Tom Riddles, des späteren Lord Voldemort erfährt. Aber von dem wichtigsten Punkt, den Horkruxen, erfährt er eigentlich erst zu spät. Und die Gefahr droht aus einer völlig anderen Richtung als erwartet…
Der sechste HP-Roman, um gut ein Drittel kürzer als der Vorgänger, macht, bei allem Respekt vor der Schreibleistung der Autorin, den Eindruck, als sei relativ kurzfristig die Storyline geändert worden, als die zweite Hälfte angebrochen worden war. Wieder enthält das Buch die übliche Mischung aus Schulalltag an einer magischen Schule, unterlegt mit zahlreichen kurzweiligen Zaubereien, sowie den weiterführenden Handlungssträngen um Lord Voldemort und seine Verschwörung, die Hintergründe für den Krieg bleiben aber meist diffus.
Voldemort selbst kommt im Buch nicht vor, was m. E. schon bezeichnend ist (nun gut, als Tom Riddle in den Erinnerungsblenden natürlich reichlich, aber der gegenwärtige Voldemort halt nicht). Es scheint, als sparte ihn sich die Autorin für den kommenden Roman auf. Von den Aktivitäten der Todesser erfährt man meist nur über die Zeitungsmeldungen, was mir etwas wenig war.
Auf durchaus süße Weise werden außerdem die Teenager-typischen Liebes-Konfusionen fortgesetzt, die im letzten Band begonnen haben und den Schülerinnen und Schülern Ratlosigkeit, süße Raserei oder Tränenkaskaden bescheren. Man merkt, die Hormone spielen hier komplett verrückt, mit allem, was dazugehört. Leider wird Harrys Schwarm Cho Chang aus dem letzten Buch so gar nicht mehr verfolgt, was ich schade fand. Dafür sollte man wirklich mehr Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Ginny Weasley aus der zweiten Reihe legen, die ist wirklich gelungen, wobei ich nicht nur ihre Quidditch-Karriere meine. Und natürlich muss man auch auf Ron achten, ihren älteren Bruder.
Manche Handlungsstränge geraten hier leider wieder völlig ins Hintertreffen und bestätigen die Einschätzung, dass das Buch – wie halt alle guten Bücher, gell? – um einige hundert Seiten zu kurz ist: Hagrid etwa hätte durchaus mehr Platz verdient, der Orden des Phönix und seine Angehörigen verschwinden fast vollständig, die anderen Hogwarts-Häuser bleiben ebenso blass wie in Band 5, der Eindruck, dass die Schule allmählich reine Kulisse wird, drängt sich beunruhigend auf.
Gewiss, das Ende ist dramatisch, es ist, würde ich sagen, für die meisten Leser fast traumatisierend, und insbesondere die Entscheidungen, die Harry trifft, lassen den Betrachter zwischen Verständnis und Kopfschütteln schwanken. Aber bekanntlich sind wir nicht Harry Potter. Jetzt jedenfalls ist das Spiel vollkommen offen, die Jagd auf Lord Voldemort und seine Diener ist eröffnet. Die finale Auseinandersetzung steht an, und der Band 7 wird höchstwahrscheinlich den Showdown zeigen. Mutmaßlich ist das allerdings frühestens 2008, da Rowling nach eigener Aussage – Homepage – noch nicht mal mit dem Schreiben von Band 7 begonnen hat. Nun, da sie inzwischen Milliardärin ist und die Bücher sich auch weiterhin gut verkaufen, können sich die Leser vermutlich glücklich schätzen, dass sie mit dem Schreiben überhaupt weitermacht, nicht wahr?
Und dennoch: natürlich werden wir uns den siebten Band auch kaufen. Wir wollen doch wissen, wie es weitergeht…
© 2006 by Uwe Lammers
Soweit meine Potter-Wasserstandsmeldung aus dem Sommer 2006. In der kommenden Woche konfrontiere ich euch mit einem faszinierenden Experiment, das wirklich höchst kurios ist. Ich nenne kurz die Eckdaten: Das Buch selbst erschien 1958 in Amerika, von 1974 stammt die Ausgabe, die ich besitze, und 2016 habe ich es rezensiert. Gleichwohl ist es Science Fiction und spielt anno 1999…
Wovon rede ich? Schaut es euch in der kommenden Woche an. Nur soviel zur Vorfreude: Es ist ein echter Klassiker der Science Fiction-Literatur!
Bis dann, Freunde.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Joanne K. Rowling: „Harry Potter und der Feuerkelch“, 2001.