Liebe Freunde des OSM,
als ich vor fünfzehn Jahren, als frisch gebackener Absolvent der Geschichtswissenschaften an der TU Braunschweig mal wieder ein Buch aus meinem Altbestand ungelesener Bücher griff (Fans kennen diese Art von Dauerablage als SUB – „Stapel ungelesener Bücher“, aber es dauerte ungelogen Jahre, bis ich diese Abkürzung selbst verwendete), entschied ich mich für dieses Werk, das ich schon in den 90er Jahren erworben hatte. Es war eine interessante Erfahrung, die ich heutzutage partiell unter „kontrafaktisch“ einsortieren würde.
Die Frage, wie Josef Stalin zu Tode kam, ist bis heute geheimnisumwittert, und der vorliegende Roman ist natürlich nicht der einzige, der das thematisiert. Für mich war das thematisches Neuland, über die russische Geschichte en detail wusste ich nicht sehr viel, und ich lernte folgerichtig einiges Interessante durch diese Lektüre.
Zugleich, das werdet ihr feststellen, tat ich mich mit dem Werk schwer. Es hat etwas von einer Achterbahnfahrt an sich. Mal faszinierend fein geschliffene Charaktere, dann wieder völlige Plattheit bei der Schilderung anderer. Heutzutage würde ich sagen, dass man insbesondere bei der Darstellung der Frauencharaktere deutlich das Alter des Verfassers und eine gewisse traditionelle Verknöcherung spüren konnte. Das, was wir heutzutage aus der Literatur kennen, namentlich (aber durchweg nicht ausschließlich) im Bereich der erotischen Literatur, nämlich die Darstellung starker Frauencharaktere, die sich auch ohne männlichen „Begleitschutz“ zu behaupten wissen und glaubwürdig dargestellt werden, das war für Kruse offenkundig Neuland. Weswegen ihm, meiner Ansicht nach, die Darstellung von Gail definitiv missraten ist.
Einerlei – dies ist meine persönliche Sichtweise. Vielleicht sehen andere Leser das ja auch völlig unterschiedlich. Ich denke, dass es darum durchaus sinnvoll ist, dieses Buch mal zur Prüfung vorzustellen.
Neugierig geworden? Dann lest mal weiter:
Der Maulwurf im Kreml
von John Kruse
Bastei 13205
464 Seiten, TB
Juli 1989
Übersetzt von W. M. Riegel
Wir schreiben das Frühjahr 1953. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich eine neue Ordnung über die Welt gestülpt, die von zwei aufstrebenden Supermächten, den USA und der Sowjetunion dominiert wird. Überall in der Welt werden Stellvertreterkriege ausgefochten, aktuell gerade in Korea. Der Krieg der Geheimdienste beginnt jedoch gerade erst. Die sich formierende Organisation der Central Intelligence Agency (CIA) soll eine Frontstellung in diesem Kampf einnehmen, leidet jedoch unter einem offenkundigen Manko: es gibt in der Sowjethierarchie keinen geeigneten Spion, der aus Stalins direkter Nähe berichten könnte…
Das erweist sich als Irrtum. Der amerikanische Staragent David Kelland berichtet, dass er seit mehreren Jahren einen Topspion direkt im Kreml besitzt, einen so genannten Maulwurf, genannt „Red Omega“. Und Stalins kürzlich begonnene Säuberungsaktionen, die selbst seine eigenen Leibärzte nicht verschonen, zielt nach Kellands Aussage direkt darauf, Red Omega zu enttarnen.
Es gibt also offenkundig nur einen Weg, diese Enttarnung zu verhindern. Sie lautet: töten Sie Stalin! Dabei darf indes kein Verdacht auf die USA fallen, anderenfalls droht ein nuklearer Weltkrieg…
Kelland, ein in jeder Beziehung eiskalter Mann, der über Leichen geht, beginnt seine Fäden zu ziehen und eine Operation mit dem verharmlosenden Titel „Sonnenblume“ zu inszenieren. Seine Schachfiguren sind die zwangsversetzte Agentin Gail Lessing in England und ihr psychotischer Aufpasser Holz – und ein antiamerikanisch eingestellter spanischer Revolutionär, der in Moskau vom NKWD verhaftet wurde und jahrelang in einem GULAG gelitten hat, aus dem er jedoch entfliehen konnte. Joaquin Cabeza, eine hochintelligente, höchst misstrauische und stolze Natur, ist noch immer glühender Kommunist, aber er hasst Stalin und das Regime, das in Spanien errichtet worden ist. Dennoch würde er nicht im Traum daran denken, dorthin zurückzukehren, weil ihm nichts als der sichere Tod droht.
Als Cabeza aber auf der Suche nach seiner Familie inkognito nach Spanien zurückkehrt und von seinem Todfeind General Franco inhaftiert wird, steht er mit dem Rücken zur Wand. Dennoch dauert es lange, bis er in Kellands Sinne zu „funktionieren“ beginnt. Und auch dann ist der Plan immerzu gefährdet, bis hinein ins Herz des Kremls und bis zur persönlichen Konfrontation mit dem großen Diktator Stalin selbst…
Josef Wissarionowitsch Dschugiaschwili, genannt Stalin, ist eine der gefürchtetsten und unheimlichsten Gestalten der jüngeren Vergangenheit, ein Mann, getrieben von dem unbändigen Machthunger, zugleich zerrissen und geplagt von permanentem Misstrauen, das ihn selbst dazu bringt, seine Ehefrauen exekutieren zu lassen und engste Mitarbeiter von einem Tag auf den nächsten zu Todfeinden zu erklären.
Stalin starb am 5. März 1953 an einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt, so wird es erzählt. Dieser Roman geht von einer anderen Schlussfolgerung aus und ist deswegen historisch-kritisch von großem Interesse. Auch die Tarnung des „Maulwurfs im Kreml“, um den es letzten Endes eigentlich gar nicht genau geht – Cabeza ist die Hauptperson, unstrittig – , steht durchaus im Einklang mit den Zeitläuften.
Aber da hören die positiven Bemerkungen zu diesem Buch schon beinahe auf. Ich bin gerne bereit, dem britischen Autor Kruse, der seit 1954 hauptberuflich Drehbücher geschrieben hat, sich aber aus unklaren Gründen erst jetzt zu einem Roman entschlossen hat, zu attestieren, dass er Personen glaubwürdig darstellen und agieren lassen kann. Aber er hat massive Schwierigkeiten mit Personen der Zeitgeschichte – was man besonders in der zweiten Hälfte des Buches spürt. Er kann nicht sehr überzeugend Frauenfiguren aufbauen, was ich insbesondere in der hinteren Hälfte des Romans sehr bedauert habe, wo Gail Lessing eine mehr oder weniger reine Statistenrolle zugebilligt wird.
Wenn man, wie Gail, Agentin der CIA werden möchte und ausdrücklich mehrere Male im Außeneinsatz war, dann wirkt ihre Darstellung im Fortgang des Buches immer hölzerner, instrumentalisierter. Sie hätte liebevoller herausgearbeitet werden sollen.
Auch neigt Kruse, wenn man kritisch bleiben möchte, zu überstürzter Darstellung an exponierten Stellen der Handlung. Wenn der Protagonist plötzlich Stalin gegenübersteht, ist es wenig nützlich, diese Stelle sehr schnell vorübergehen zu lassen und den von paranoidem Verfolgungswahn geradezu besessenen Diktator danach wieder zur Tagesordnung übergehen zu lassen. Das ist höchst unrealistisch.
Ähnlich ist es mit der angeblichen Motivation von „Red Omega“, warum er mit den Amerikanern zusammenarbeiten sollte… hier gibt es Argumentationslücken, die auch durch lange Monologe am Ende des Buches nicht geschlossen werden können. Die letzten dreißig Seiten sind zwar geschwind zu lesen, aber sie dehnen sich dennoch wie Kaugummi. Insbesondere in Anbetracht der schlussendlich gewählten Lösung – es hätte schönere, faszinierendere Varianten gegeben – muss konstatiert werden, dass sie Seitenschinderei darstellen. Das versäuert dem Leser dann doch ein wenig den Schluss.
Wer sich hingegen für einen beeindruckend geschilderten spanischen Revolutionär interessiert, für eine innerlich zerrissene Persönlichkeit und einfach eine faszinierende Person, dem seien die ersten 250 Seiten dieses Buches sehr ans Herz gelegt. Und natürlich, falls man einen absolut unmenschlichen Vertreter westlicher Geheimdienste kennenlernen und am liebsten abservieren möchte. Gemeint ist David Kelland. Und was ihn angeht… ach nein, das sage ich dann doch nicht. Das sollte man selbst lesen.
Mit Einschränkungen durchaus ein empfehlenswertes Buch.
© 2003 by Uwe Lammers
In der Vorstellung der kommenden Woche bleiben wir in gewisser Weise der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. Es geht ebenfalls um die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs, aber diesmal verirren wir uns nach Fernost und in einen Roman von Clive Cussler… Moment, nur von Clive Cussler? Nein, denn auf dem Buchumschlag taucht auf einmal ein weiterer Name auf, der mich damals überraschte: Dirk Cussler! Cusslers Sohnemann – dessen alter Ego als Dirk Pitt jr. in der Handlung aktiv wird – , tritt als Coautor in Erscheinung.
Es kann natürlich nicht überraschen, dass ich ziemlich gespannt darauf war, ob der Junior neuen Wind in die Garde der alten NUMA-Kämpen bringen würde. Ob sich das bewahrheitet hat, erfahrt ihr dann im Blogartikel der kommenden Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.