Liebe Freunde des OSM,
als ich anno 2005 das vorliegende Buch als vorläufig letzten aktuellen Roman der Harry Potter-Reihe las – die anderen waren noch nicht publiziert – , da war selbst die Verfilmung noch nicht weit genug fortgeschritten, so dass ich unten spekulieren musste, was dieselbe im Falle dieses Werkes ergeben würde. Nun, meine Prognose war völlig berechtigt.
Disney hatte scheinbar sehr wenig Interesse daran, das Problem des Menschenhandels und der leider immer noch existenten Sklaverei (es gab zur Zeit, als Rowling dieses Buch verfasste, einen aktuellen Skandal, wenn ich mich recht entsinne, und es erschien das Buch „Sklavin“ von Mende Nazer zu dem Thema) zu behandeln. Der Handlungsstrang um die Elfenrechte fiel vollkommen dem Vergessen anheim. Dasselbe geschah weitgehend mit all den politischen Anspielungen.
Nennen wir es freundlich „Entschärfung“ der problematischen und kritischen Passagen des Buches. Ich glaube, die Autorin hatte aufgrund der großen Popularität, die sie bis dahin bereits besaß, einige „Narrenfreiheit“, die sie hier weidlich ausnutzte. Insofern ist dieser Band der Harry Potter-Reihe vermutlich der interessanteste überhaupt. Später fiel sie, wenigstens meiner Einschätzung zufolge, hinter diese Linie wieder zurück.
Meine Vermutung, dass das Buch zudem nur noch bedingt als Jugendbuch geeignet wäre, wurde mir damals von einer Mutter bestätigt, die ihren Kindern diese Bücher vorzulesen pflegte. Sie fühlte dieselben Vorbehalte wie ich – wie sie ihren Kindern dann die restlichen Werke vermittelte, entzieht sich leider meiner Kenntnis, ich habe den Kontakt verloren.
Wer wider Erwarten mit dem vorzustellenden Buch nun noch keinen Kontakt gehabt haben sollte oder eben nur die Kinofassung kennt, die hinter dem geschriebenen Werk wie üblich weit zurückbleibt, der sollte sich auf ein interessantes Leseabenteuer einstellen und in der Lektüre jetzt fortfahren:
Harry Potter und der Feuerkelch
(Harry Potter and the Goblet of Fire)
von Joanne K. Rowling
Carlsen-Verlag, 2001
768 Seiten, TB
Übersetzt von Klaus Fritz
Als Harry Potters viertes Jahr an der Zaubererschule von Hogwarts beginnt, überschattet ein erstaunliches Ereignis alles andere: die Quidditch-Weltmeisterschaft (ein eindeutiger Klon der Fußball-WM des Jahres 2000, das sei mal als Nebensatz angemerkt). An einem streng geheim gehaltenen Ort treffen sich Tausende von Zauberern, um Quidditch-Spielern aus verschiedensten Ländern zuzusehen. Durch gute Beziehungen zur Familie Weasley, der Harrys bester Freund Ron entstammt, gelingt es ihm, eine der begehrten Karten zu ergattern und daran als Zuschauer teilzunehmen. Und damit beginnt das Unheil.
Denn wiewohl es ein beispielloses Spektakel ist und der junge Zauberer dabei auswärtige Schulen wie Beauxbaton in Frankreich und Durmstrang (mutmaßlich auf dem Balkan gelegen, vielleicht aber auch am Polarkreis, so genau kommt das nicht heraus) kennenlernt und die Bekanntschaft mit zwei wichtigen Angestellten des Zaubereiministerium – Barty Crouch und Ludo Bagman (letzterer ist ein einstiger Quidditch-Champion) – macht, endet Harrys eintägiger Besuch der Quidditch-Weltmeisterschaft im Desaster: über einem Wald erscheint überdimensional ein gigantischer Totenschädel, das Zeichen des Dunklen Lords Voldemort, und dieses Zeichen versetzt die meisten Zauberer in Hysterie. Verantwortlich für das Chaos zeichnen offenbar Crouchs Hauselfe Winky, die er postwendend entlässt, und… Harrys Zauberstab!
Schlimmer scheint es aber zu sein, dass eine Gruppe vermummter Gestalten Jagd auf Muggel (also Menschen) gemacht hat – angeblich so genannte „Todesser“, Anhänger Voldemorts, die der Jagd vor vierzehn Jahren entgangen sind, als Voldemort seine Macht nach dem Mordanschlag auf die Potters verlor. Auch jetzt werden sie nicht entlarvt, sondern können entkommen.
Harry ist jedenfalls sehr froh, als er sich endlich in Hogwarts befindet. Leider verfolgt ihn das Pech: eine nervige Hexe des Tagespropheten, einer prominenten Klatschzeitung der Zaubererwelt, Rita Kimmkorn, hat sich auf ihn eingeschossen und zerrt Harrys Vergangenheit in völlig sinnentstellender Weise ans Tageslicht. Um die Sache noch schlimmer zu machen, werden auch Harrys Freunde Hermine Granger, Ron Weasley und der Wildhüter Hagrid in die Sache hineingezogen und deren Ruf lädiert, sehr zum gehässigen Vergnügen von Harrys Intimfeind und Mitschüler Draco Malfoy. Der einzige Lichtblick ist der einstige Auror und „wahnsinnige“ neue Lehrer für die Verteidigung gegen die dunklen Künste: der furchtbar verstümmelte „Mad Eye Moody“, der Harry in Schutz nimmt und zu einem neuen Freund wird.
Und dann verkündet der Schulleiter Dumbledore, dass beschlossen worden ist, zum ersten Mal seit siebenhundert Jahren ein Trimagisches Turnier auszutragen, bei dem drei magische Schulen – Hogwarts, Beauxbaton und Durmstrang – gegeneinander anzutreten haben. Dafür entfällt die Quidditch-Meisterschaft für dieses Schuljahr.
Harry ist davon nicht erfreut, schließlich ist er begeisterter Quidditch-Spieler. Doch wer beschreibt seine Verblüffung, als aus dem Feuerkelch, der über die Wahl der Teilnehmer zu entscheiden hat, ungeachtet der magischen Altersbeschränkung VIER Namen statt dreien gezogen werden? Der vierte ist, selbst zu Dumbledores großer Verblüffung, Harry Potter selbst.
Und von da an geht alles schief.
Ron ist überzeugt, Harry habe seinen Namen heimlich eingeworfen, Hermine beginnt mit dem Champion der Durmstrangs zu flirten (und für die Rechte versklavter Elfen einzutreten), Ludo Bagman ist der Ansicht, er müsse Harry beständig helfen, und Rita Kimmkorn schreibt einen wilden, gehässigen Artikel nach dem nächsten über Harry.
Viel zu jung für das Turnier, viel zu unerfahren und völlig eingeschüchtert, sucht der junge Zauberer heimlich Rat bei seinem Patenonkel Sirius Black, und insgeheim hat er die Befürchtung, dass, wer immer seinen Namen in den Feuerkelch tat, damit vielleicht beabsichtigt hat, ihn während der Prüfungen zu töten.
Wie der Plan wirklich aussieht, begreift er leider erst, als er, an einen Grabstein gefesselt, seinem tödlichsten Feind Auge in Auge gegenübersteht: Lord Voldemort höchstpersönlich…
Man kann vermutlich geteilter Meinung sein, ob HARRY POTTER 4 noch einen Kinder- und Jugendroman darstellt oder nicht. Ich denke das nicht. Während die ersten beiden und, mit Einschränkung, auch der dritte noch einwandfrei Werke sind, die Jugendliche mit viel Vergnügen und atemloser Spannung lesen können, scheint mir doch der sehr weitgespannte Handlungsbogen des vorliegenden Buches mit all den zum Teil beunruhigenden Themenkomplexen eher für Leute jenseits der 18 geeignet zu sein.
Was etwa soll man von der Frage der Elfen und der Sklaverei halten, die stark thematisiert wird und von der Zwölf- bis Fünfzehnjährige vermutlich noch nicht eben viel Ahnung haben werden? Wie ist das mit der immerzu durchschimmernden Beschäftigung mit Korruption und politischen Abhängigkeit in den Entscheidungsprozessen? Was ist mit dem offensichtlichen Rassismus, der immer mehr bei einzelnen Protagonisten in den Vordergrund drängt? Vollends verlassen wird das Feld der Jugendliteratur aber meiner Ansicht nach in dem Augenblick, wo wir Zeugen der magischen Schauprozesse gegen die Anhänger von Lord Voldemort werden. Darin schwingt soviel mit von Justizproblemen nach dem Wechsel von Unrechtsregimen zu demokratischen Herrschaften, dass ich der Ansicht bin, Jugendliche im Alter zwischen 12 und 15 würden die hier dargestellten Sachverhalte möglicherweise nicht oder nur verzerrt begreifen können.
Rowling zeigt mit diesem Roman, dass sie durchaus willens und fähig ist, langgestreckte Handlungsbögen, sehr komplexe Plotlinien und gesellschaftspolitische Probleme miteinander zu verbinden. Wer diesen Roman infolgedessen nur als „Kinderbuch“ abtut, hat einfach keine Ahnung, was für ein Potenzial darin steckt. Ob es hilfreich ist, Kinder und Jugendliche in so frühem Alter schon an derartig schwer verdauliche Themen heranzuführen, kann ich nicht beurteilen. Elterliche Begleitung ist für dieses Buch deshalb sicherlich sehr nützlich. Wie viel von diesem Inhalt die Verfilmung überlebt, muss sich zeigen (vermutlich nicht eben viel).
Viele Themen, die noch offen sind, harren weiter ihrer Bearbeitung, und wenn man sieht, wie weitläufig die Verbindungslinien inzwischen sind (Rowling nimmt in diesem Buch bevorzugt Fäden aus dem ersten und zweiten Band auf), dann kann man sehr neugierig sein, wie sich das alles weiter entwickelt und wie sich ihr Kontinuum ausdehnt. Die magische Welt ist nun, nach dem Ende des Trimagischen Turniers, eine Welt auf Messers Schneide, und der Krieg gegen Lord Voldemort steht bevor. Ein Krieg, in dem alteingesessene Familien auf der einen Seite stehen und auf der anderen – vielleicht – die Dementoren aus Askaban, Lord Voldemort und die Riesen. Aber das ist nur ein Vielleicht.
Vielleicht kommt es auch ganz anders. Lassen wir uns überraschen…
© 2005 by Uwe Lammers
Soviel zu meiner Einschätzung des vierten Potter-Romans von vor dreizehn Jahren. In der kommenden Woche möchte ich euch ein weiteres interessantes Werk vorstellen, in dem es um eines meiner historischen Lieblingsthemen geht, den Ersten Weltkrieg. Allerdings nicht um den Krieg selbst, sondern um ein Schicksal, das direkt im Anschluss daran eine kriminalistische Spurensuche notwendig macht und wunderschön verfilmt worden ist.
Neugierig geworden? Dann schaut nächste Woche wieder herein, Freunde. Ich freue mich drauf.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.