Rezensions-Blog 149: Die Frau des Zeitreisenden

Posted Januar 31st, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich liebe Zeitreisegeschichten… das ist etwas, was ihr von mir natürlich schon lange wisst. Und das Buch, das ich euch unten vorstellen möchte, gehört in die Rubrik, die ich – unter den Zeitreiseromanen – als absolutes „must have“ einsortieren würde. Ein zutiefst romantischer, witziger und auch etwas tragi­scher Roman. Also genau das, was eine solche Geschichte beinhalten sollte.

Mit einiger Verblüffung entdeckte ich zudem in dieser inzwischen acht Jahre al­ten Rezension ein paar Elemente, die ich im Lichte späterer Erfahrungen etwas kommentieren möchte. So sage ich da unten beispielsweise etwas zum Energie­erhaltungssatz und der Schwierigkeit, wenn Zeitreisende sich in verschiedenen temporalen Versionen begegnen… wenn man sich anschaut, wie abenteuerlich solche „Kollisionen“ bei den DC-Streamingserien „The Flash“ und „Arrow“ ge­handhabt werden, muss ich sagen, bin ich mit meinen unten gemachten Aus­führungen noch sehr zurückhaltend. Scheinbar haben sich die Skriptschreiber der genannten Serien mit Genuss an dem Niffenegger-Roman bedient und sich arglos gesagt: Ach, wenn man das SO in einem Bestseller schreiben kann, dann können wir das auch so ins Serienskript übernehmen.

Halte ich für falsch, aber das ist vermutlich meine Privatmeinung.

Noch interessanter erscheint mir im Lichte meiner Kenntnis der Beziehung zwi­schen Doctor Who und Professorin Dr. River Song (Alex Kingston) in der neuen Doctor Who-Serie die bemerkenswerte Parallelität der chronologischen Asyn­chonizität. Bekanntlich taucht River Song in Staffel 4 der Serie in den Episoden „Tödliche Stille“ und „Wald der Toten“ auf (mit zwei der besten der gesamten Serie, wie ich finde). Und hier wird deutlich, dass die beiden ihre Leben in um­gekehrter Reihenfolge leben. Da diese Serienepisoden erst 2013 ausgestrahlt wurden, bedarf es wohl keiner ausgeprägten Phantasie, dass sie von Niffeneg­ger inspiriert wurden… leider wurde dem Doctor das Liebesglück mit River Song konsequent von den Skriptschreibern versagt, das Henry DeTamble und seiner Clare beschert wurde.

Schade.

Und, wie ich ebenfalls unten ausdrücke: Der Film reicht definitiv nicht aus, um sich eine komplexe Vorstellung des eigentlichen Buches zu machen. Mein Tipp ist immer noch: erst den Film sehen, dann das Buch lesen und bereichert und zufrieden daraus wieder auftauchen.

Bereit für ein wildes Zeitreiseabenteuer? Dann anschnallen, und los geht’s:

Die Frau des Zeitreisenden

(OT: The Time Traveller’s Wife)

von Audrey Niffenegger

Fischer-Verlag, 2007

834 Seiten, Hardcover, Kleinformat

Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit

ISBN 978-3-596-50983-6

Die Zeit ist ein unersättlicher Mahlstrom, der alles zerreibt und zermürbt, was wir kennen, jede Materie, alle Dinge, alle Hoffnungen, einfach letztlich alles, und sie strömt mit unerbittlicher Gleichgültigkeit immer nur in eine Richtung, nämlich die der fortschreitenden Entropie, entgegen jenem fernen Punkt, an dem alle Dinge zerfallen sein werden und alle Wünsche und Sehnsüchte aufhö­ren zu existieren. Doch einmal angenommen, es gäbe… Anomalien. Dinge oder Wesen, die sich der Einbahnstraße der Zeit widersetzen können. Wie würden diese Wesen auf die Umwelt einwirken? Wie wäre es, wenn ein Mensch gleich­sam aus der Zeit herausfiele, ohne dass er etwas dafür könnte? Könnte dieser Mensch jemand anderem plausibel machen, was ihm widerfährt? Könnte er dennoch so etwas wie ein menschliches Leben führen? Lieben vielleicht?

Henry DeTamble ist ein solches Wesen.

Henry ist ein Zeitreisender, und dafür benötigt er keine hochgezüchtete Zeitma­schine a la H. G. Wells, er benötigt keine gewaltigen Mengen an Energien, keine exotische Materie oder Wurmlöcher, auch keine Raumschiffe. Henry ist ein ganz äußerlich ein ganz normaler Mensch und wird im Nordamerika des Jahres 1963 von einem virtuosen Geiger und einer wunderschönen Sängerin geboren. Doch als Henry noch ein kleines Kind ist, erleiden seine Mutter und er einen verhee­renden Autounfall. Seine Mutter ist sofort tot. Er selbst hingegen… befindet sich splitternackt am Straßenrand und begreift gar nichts mehr. In diesem Moment aktiviert sich das verheerende Gen in seinem Körper das erste Mal und entfernt ihn für Sekunden aus der Gegenwart und reißt ihn an einen anderen Ort.

Von diesem Augenblick an ist er ein Zeitreisender, dazu verurteilt, immer wie­der einmal, meist zu den unmöglichsten Momenten, „aus der Zeit zu fallen“, wobei er nichts als seine eigene Haut mitnehmen kann. Es versteht sich von selbst, dass das eine Fähigkeit ist, die er anfangs hasst. Später lernt er mühsam, sich damit zu arrangieren, wobei er diesen Fluch oder was immer es genau sein mag, vor der Umwelt mühsam verborgen hält.

Zu seinem Glück hat er einen Lehrer für diese Fähigkeit und alles, was das Zeit­reisen so mit sich bringt – sich selbst. Recht häufig begegnet der junge Henry seinem älteren alter Ego, das ihm beispielsweise beibringt, wie man sich Klei­dung „organisiert“, wie man Schlösser knackt und sehr wirkungsvoll vor der Polizei flüchtet. Henry DeTamble gelingt es sogar, zu studieren und schließlich in einer Chicagoer Bibliothek als Bibliothekar zu arbeiten.1 Bis zum Jahre 1991 geht alles gut, genauer gesagt, bis zum 26. Oktober 1991, den Henry niemals vergessen wird – denn an diesem Tag trifft er die Frau seines Lebens in der Bi­bliothek, Clare Abshire, eine zwanzigjährige, dynamische Künstlerin. Seine zu­künftige Frau. Aber das weiß er natürlich in diesem Moment noch nicht. Clare schon…

Henry!“ Ich muss mich zurückhalten, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Aber offensichtlich hat er mich noch nie in seinem Leben gesehen.

Kennen wir uns? Tut mir leid, ich…“ Henry sieht sich um, befürchtet, wir könn­ten von Lesern oder Kollegen bemerkt werde, durchforstet sein Gedächtnis und begreift, dass eine zukünftige Ausgabe seines Ichs diesem strahlend glücklichen Mädchen, das da vor ihm steht, schon einmal begegnet ist. Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er mir auf der Wiese die Zehen gelutscht…

Clare, die Hauptperson des Romans (neben Henry natürlich), erzeugt in dem arglosen Bibliothekar eine ganz besonders aufregende Konfusion. Ihm wird klar, dass er „später“ in seinem Leben Clare „früher“ schon einmal „besucht haben werden wird“ (mit den Zeiten ist das so eine Sache, sie verlaufen in diesem Ro­man sehr vertrackt, aber ungemein reizvoll und niemals so kompliziert, dass sie den Lesefluss hemmen). Und Clare Abshire kennt ihn bereits seit längerem. Wie lange, kann er natürlich nicht wissen. Doch sie erzählt es ihm wenig später: sie hat ihn zum ersten Mal gesehen, als sie sechs Jahre alt war. Er hat darum buch­stäblich ihr gesamtes bisheriges Leben geprägt (ohne dass IHM davon schon et­was widerfahren ist, das kommt alles noch).

So kommen die beiden auf eine sehr romantische Weise, die durchaus höchst chaotisch wird, zusammen, und unablässig springen die Zeiten, immer wieder begegnet Henry sich selbst, Clare in früheren Lebensphasen, überrascht Clares Freundinnen, materialisiert nackt in der Bibliothek und muss sich mit Bewe­gungsmeldern und ähnlich unangenehmen Dingen herumschlagen. Er stellt schnell fest, dass das Leben mit Clare zwar herrlich und vor allen Dingen äu­ßerst erotisch ist, aber es ist nicht eitel Sonnenschein.

Und es gibt Geheimnisse. Dinge, die Clare von Henry und über ihn weiß, er aber nicht (weil er sie noch nicht erlebt hat). Eines davon, das ihr in der Bedeutung aber nicht klar ist, betrifft den 27. Oktober 1984, als Clare 13 Jahre alt war. Für ihn ist das noch ferne, traumatische Zukunft. Aber unausweichlich.

Noch schwieriger wird die Lage aber, als sie Nachwuchs haben wollen. Denn es stellt sich schnell heraus, dass das Zeitreisegen vererbt wird. An jedes einzelne Kind. Und ein jedes stirbt, bevor es geboren wird…

Dieses Buch, das ich 2007 in einer schönen, bibliophilen Ausgabe geschenkt be­kam und erst jetzt nach dem Ansehen des gleichnamigen Kinofilms, der auf dem Buch basiert2, lesen konnte, ist wirklich eine der erlesenen kleinen Kost­barkeiten des modernen Buchmarktes, die man als romantisch veranlagter Mensch meines Erachtens einfach gelesen haben sollte. Die Länge des Buches wird man nach wenigen Seiten gar nicht mehr spüren, sondern sich eher wün­schen, es würde niemals enden (leider ist es nach gut 800 Seiten schon zu Ende, die Taschenbuchausgabe sogar schon nach etwas mehr als 500 Seiten. Sniff!). Und ich glaube auch, es ist gar nicht mal zwingend notwendig, dafür Phantastik-Fan zu sein. Danach könnte man es allerdings werden.

Ein Kritiker merkte zu dem Film an, der Regisseur habe händeringend versucht, die Logiklücken des Films durch romantische Szenen zu überspielen (was m. E. weitgehend gelungen ist), allerdings kamen diese Lücken mehrheitlich im Film vor. Für sich betrachtet, ist er faszinierend, doch empfiehlt es sich sehr, den Film zu sehen und danach erst den Roman zu lesen, sonst könnte eine gewisse Ent­täuschung unvermeidlich sein. Der Regisseur des Films war einfach zu eifrig dar­auf bedacht, Szenen zusammenzubasteln, die so eigentlich nicht recht zu­sammengehörten. Der Leser merkt das rasch. Er entdeckt auch, wie sehr ver­armt die Filmfassung gegenüber dem Buch ist:

Viele wirklich konstitutive Elemente des Buches fehlen im Film gänzlich. Bei manchen kann man es sehr gut nachvollziehen. Als Clare 18 wird und Henry sie auf der Wiese trifft, um sie danach zwei Jahre lang nicht zu besuchen, wird nicht nur ein Kuss ausgetauscht (wie im Film), sondern es geschieht noch weitaus mehr. Das wäre aber für den Regisseur wohl moralisch bedenklich gewesen. Ebenso stelle ich es mir höchst problematisch vor, es als „intelligent“ hinzustellen (wie es im Buch aus purer Notwendigkeit passiert), wenn ein jun­ger Mann seinem jugendlichen alter Ego beibringt, wie man Leute ausraubt und Schlösser knackt. Nicht eben eine Vorbildfunktion, die man im Kino gern zeigen will, nicht wahr? Dito verhält es sich mit der wirklich sehr stürmischen Leiden­schaft, die Henry und Clare an den Tag legen, BEVOR sie verheiratet sind. Wie sagt Clare doch einmal? „An manchen Tagen kann ich gar nicht recht sitzen“, und das sagt doch eine ziemliche Menge über den beiderseitigen Sexwunsch aus… so ist es nämlich gemeint.

Ebenso findet eine drastische Einschränkung des personellen Umfelds der bei­den Familien statt. Freundinnen von Clare, ehemalige Geliebte von Henry, das gesamte Bibliothekspersonal und eigentlich beiderlei Familienangehörige hören quasi auf zu bestehen, gemeinsam mit allen faszinierenden, dramatischen, er­heiternden oder problematischen Szenen, die damit zusammenhängen. Das schwächt den Film außerordentlich ab.

Wo das Buch hingegen eine offensichtlich handlungsdramaturgische Schwäche besitzt, das ist der Punkt der Begegnungen von jüngeren und älteren Zeitreisen­den. Hier wird munter gegen den Energieerhaltungssatz verstoßen. Phantastik-Leser, die sich mit Zeitreisegeschichten auskennen, wissen das zur Genüge. In den weitaus meisten Zeitreisegeschichten hüten sich Zeitreisende, ihrem alter Ego anderer Zeiten nahe zu kommen. Henry I und II haben aber gar keine Skru­pel, einander sehr handgreiflich zu unterstützen und (dosiert) ihr Wissen aus­zutauschen.

Doch das alles ist angesichts der Liebesgeschichte um Henry und Clare wirklich vollkommen nebensächlich. Ich habe wirklich schon sehr lange kein so unend­lich romantisches Buch mehr gelesen, aus dem ich nur mit großem Widerstre­ben wieder auftauchen wollte.

Es ist ein schönes Buch, aller Kritik zum Trotz. Und es ist einfach grandios über­setzt. Wer immer es sehen sollte, muss unbedingt zuschlagen. Wenn ihr auch nur einen Funken romantischen Einfühlungsvermögens besitzt, werdet ihr Hen­ry, Clare, die Autorin und das Buch lieben!

© 2009 by Uwe Lammers

Genug geschwärmt, meine Freunde? Nein, ich glaube nicht! Und weil das so ist, werde ich auch in der kommenden Woche eines meiner ausdrücklichen Lieblingsbücher vorstellen, das ich unbedingt in die „all time favourites“ einsortieren würde, ohne Einschränkung… was bei den Tausenden von Werken, die ich in meinem Leben schon gelesen habe, eine Menge aussagt.

Was für ein magisches Buch ist es diesmal? Lasst euch überraschen – nächste Woche an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Und das ist eine der wunderbaren Eigenschaften des Buches: man glaubt diesem Henry DeTamble seinen Charakter, weil die Autorin das ganze Buch mit herrlichen bibliografischen Anekdoten, literarischen Anspie­lungen und wunderschönen Dialogen füllt, die man sich sehr gut bei Bibliothekaren vorstellen kann. Zumal dann, wenn man persönlich welche als Leser kennt, wie es bei mir der Fall ist…

2 Die Frau des Zeitreisenden, mit Eric Bana (Henry DeTamble) und Rachel McAdams (Clare Abshire), 2009. Lei­der fand ich, dass einige wesentliche Charakteristika bei den beiden auf der Strecke blieben, so dass sie ihre Rollen nicht wirklich ausfüllen konnten. Reduktionismus hat eben ernste Nachteile.

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