Liebe Freunde des OSM,
Sherlock Holmes und das Übernatürliche… das ist beinahe schon ein schreiender Widerspruch, der nicht zusammengeht. Das könnte man so glauben, aber das geht etwas an der historischen Realität vorbei. Well, nun könnte ein kenntnisreicher Leser einwenden, ich solle nicht den Fehler begehen, Sherlock Holmes für eine authentische Person der Zeitgeschichte halten, und in diesem Punkt würde ich sogleich beipflichten. Doch darum geht es mir nicht.
Sherlock Holmes als ein durch und durch beinharter Rationalist war dem Übernatürlichen aus gutem Grund abhold. In der viktorianischen Ära war gerade im Bereich des Spiritismus Lug und Trug an der Tagesordnung, und ob es so etwas wie echte Medien gab, durchaus fragwürdig. Gleichwohl, und darauf hebe ich an dieser Stelle ab, verfiel der Schöpfer des legendären Meisterdetektivs, Arthur Conan Doyle, dem spiritistischen „Fieber“, wie ich es nennen möchte. Wiewohl er sich eine gewisse Skepsis bewahrte, glaubte er doch felsenfest etwa an die Existenz von Feen und Elfen und war überzeugt davon, dass einige Fotos von ihnen, die er besaß, tatsächlich übernatürliche Wesen abbildeten.1
Und dies, wohl verstanden, vom Schöpfer des durch und durch rationalen Sherlock Holmes. Es ist also nicht restlos abwegig, wenn auch, zugegeben, äußerst abenteuerlich, was in diesem Sammelband von Kurzgeschichten passiert – dass nämlich der beratende Detektiv aus der Baker Street 221B mit übernatürlichen Wesen konfrontiert wird.
So wird auf interessante und verblüffende Weise der Holmes-Kosmos noch ausgeweitet auf parallele Wirklichkeiten, bevölkert von surrealen und üblicherweise monströsen Fabelwesen, die insbesondere dem Kosmos des großen Altmeisters der weird fiction, Howard Phillips Lovecraft, entsprungen sind.
Neugierig geworden? Dann lest weiter:
Schatten über Baker Street
(OT: Shadows over Baker Street)
von Michael Reaves & John Pelan (Hrsg.)
Bastei 15387, Oktober 2005
544 Seiten, TB, 8.00 Euro
Diverse Übersetzer
Als im Jahre 1887 der erste Roman um einen geheimnisvollen, durchaus etwas schrulligen Detektiv in der Baker Street 221B erschien und der zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannte Schriftsteller Arthur Conan Doyle den Grundstein zu einem Mythos legte, konnten weder er noch die Leser oder Verleger ahnen, dass nach fast 120 Jahren der Mythos Bestand haben würde. Arthur Conan Doyle wurde später geadelt und durfte sich „Sir“ nennen, und Sherlock Holmes und sein Kompagnon und ärztlicher Freund, Dr. John Watson, gingen in die Literaturgeschichte ein.
Der originale Kanon besteht aus 56 Geschichten und 4 Romanen, doch die Zahl jener Werke, die Epigonen verfasst haben, geht in die Hunderte. In diesem Buch sind nun achtzehn neue Geschichten niedergeschrieben, und nicht alle halten sich an die gängige Chronologie, ja, manche spielen nicht einmal in dieser Welt!
Das vielleicht Biedere an Doyles Geschichten war ja, dass selbst in solch obskuren Werken wie „Im Zeichen der Vier“, „Der Hund der Baskervilles“ und anderen alle geheimnisumwitterten, scheinbar übernatürlichen Ingredienzen auf einen realistischen Kern zurückgeführt werden konnten. Das geschah gewissermaßen in der Nachfolge von Horace Walpoles „Castle Otranto“, das im 19. Jahrhundert den Ruf der „gothic novel“ mit begründete.
Aber was, wenn Logik und verbrecherische Logik nicht alles wären? Was, wenn es das Übernatürliche wirklich gäbe, eine düstere, Wahnsinn verbreitende Strömung unter der Oberfläche des Wachseins?
In diesem Band nun trifft der Londoner Meisterdetektiv unvermittelt auf die Schrecknisse der Welten des Horror-Großmeisters Howard Phillips Lovecraft, mal subtil, mal derbe und direkt. Ein paar davon sollen hervorgehoben werden, um den Appetit des Lesers zu wecken:
Neil Gaiman sorgt in seiner Einleitungsgeschichte „Eine Studie in Smaragdgrün“ gleich für einen ziemlichen Schocker. Der Titel orientiert sich an dem ersten Holmes-Roman „Eine Studie in Scharlachrot“.2 Auch sonst vollzieht er sich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Der Leser wird sich erstmals klar darüber, dass etwas grundfalsch ist, als Holmes folgende Worte spricht: „Mein lieber Lestrade. So viel Verstand sollten Sie mir doch bitte zutrauen. Die Leiche ist offensichtlich nicht die eines Menschen – die Farbe seines Blutes, die Zahl seiner Gliedmaßen, die Augen, die Stelle, an der sich sein Gesicht befindet… all das deutet auf königliches Geblüt.“
Hallo?, denkt sich der überrumpelte Leser. Was ist DAS denn? Und was, bitte schön, suchen Dr. Jekyll und Jack the Ripper im viktorianischen England des Jahres 1888 und in dieser Geschichte? Was morden sie für bizarre Wesen? Wer genau liest, wird sogar die – furchterregende – Identität des Rippers herausfinden können. Oh, hier hat Gaiman eine wirklich bösartige Geschichte geschrieben, angesiedelt in einem morbiden Paralleluniversum…
Elizabeth Bear verfolgt in „Tiger! Tiger!“, die 1882 spielt, die Rolle einer Nebenperson des Holmes-Kultes: Irene Adler, die deutsche Abenteurerin, befindet sich in Indien auf Tigerjagd, als sie hier mit einem ganz besonderen Wild konfrontiert wird, das ganz gewiss nicht von dieser Welt ist und für Menschen nicht viel übrig hat…3
Steven-Elliot Altman rekonstruiert einen „Fall von königlichem Blut“ und führt Holmes zusammen mit dem Schriftsteller H. G. Wells in die Niederlande, um einen offensichtlichen Geist zu stellen. Na ja, ganz ein Geist ist es nicht, aber auch nichts viel Angenehmeres. Der unbestreitbare Reiz der Geschichte erwächst hier aus dem skeptischen Verstand von H. G. Wells, der alles Metaphysische mit natürlichen Ursachen erklären möchte.
„Die weinenden Masken“ werden in James Lowders gleichnamiger Geschichte beinahe dem Arzt und Soldaten John Watson in Afghanistan zum Verhängnis. Die blutrünstigen Abenteuer, die Watson im Alter niederschreibt und die ihn nervlich ziemlich zerrütten, wehen dem Leser den heißen, fieberigen Pesthauch eines unterirdischen Kultes im Hindukusch ins Gesicht – atmosphärisch beklemmend in Szene gesetzt, bis man sich in Werke von Henry Rider Haggard versetzt glaubt.
Kann man drei Jahre lang mehr oder weniger nur von Luft und Liebe leben? „Das fastende Mädchen“ in Poppy Z. Brites und David Fergusons Geschichte schafft dies. Der Grund dafür liegt tief in der Lovecraftschen Mythologie verborgen. Wer neugierig ist, mag dafür „The Shadow Out of Time“ lesen. Auch wenn DIESE Geschichte hier nicht in der australischen Wüste spielt, so ist doch der Grund dort zu finden – Millionen Jahre weit in der Vergangenheit…
„Das Rätsel des Gehenkten“ wird Sherlock Holmes von Paul Finch aufgegeben: ein Verbrecher, der einen Massenmord auf dem Gewissen hat, hat ihn begangen, und er ist geständig. Doch bevor er seinen letzten Gang antritt, überreicht er Holmes ein Blatt mit verwirrenden Linien, über das der Detektiv, dem auch eine Frist von wenigen Tagen gesetzt worden ist, fast verzweifelt. Erst, als er eine Schiffsfracht verfolgt, die aus dem amerikanischen Innsmouth nach London gekommen ist, wird ihm klar, was geschieht – und es ist schon fast zu spät…
Tim Lebbon schockiert auch gerne. Als John Watson abends bei einem Spaziergang einen Schlächter bei einem Mord beobachtet, ist er völlig perplex: der Mörder ist niemand Geringeres als sein Freund Sherlock Holmes! Doch ist das wirklich der Fall? Oder gibt es hier Dinge, die subtiler sind, als es auf den ersten Blick scheint? Erst spät begreift Watson: „Das Grauen hat viele Gesichter“…
Wenn ein ganzes Dorf seit vielen Tagen schlaflos ist, was nicht einmal mit Opiaten bekämpft werden kann, dann muss es dafür erkennbar einen guten Grund geben. Als Sherlock Holmes in der Geschichte „Ein Fall von Schlaflosigkeit“ dieser rätselhaften Begebenheit nachgeht, lässt Autor John P. Vourlis die Fährte zurückreichen bis nach Ägypten. Doch längst hat der Fluch die Insel erreicht und streckt seine Krallen nach Dr. Watson aus…
Dies sind nur ein paar Fälle, mit denen es der geneigte Leser hier zu tun hat. Und er begegnet Untoten, den Großen Alten, kryptischen Kulten, Schwarzer Magie, Shoggothen, Unsterblichen, die die Körper tauschen und vielem anderen mehr. Auch treffen sie recht unvermittelt auf Personen, die sie hier vielleicht nicht unbedingt erwarten: Königin Victoria, H. G. Wells, Jack the Ripper, Carnacki the Ghostfinder.4 Meist gut in Szene gesetzt sind die historischen Details und die präzise, manchmal fast unheimlich wirkende logische Deduktion, der sich Holmes bedient, um seine Klienten zu verunsichern und die Verbrecher zu entsetzen.
Dann freilich muss man auch konstatieren, dass es sich viele der Autoren zu leicht machen, indem sie die Skepsis Holmes´ einfach aushebeln und ihm ein kryptisches Geheimwissen andichten. Das ist dann doch gar zu einfach. Hat Holmes nicht einmal selbst gesagt, er würde seine Erinnerung nur mit dem belasten, was er als absolut nötig empfinde? Dazu gehört für den eingefleischten Rationalisten und Logiker sicherlich nicht die Akzeptanz des Übernatürlichen.
Trotz allem hat der Holmes-Freund und der vom Cthulhu-Mythos und der viktorianischen Zeit Faszinierte ein anregendes, spannendes Lesefutter, das sich binnen weniger Tage „inhalieren“ lässt und meiner Meinung nach den Preis sehr wert ist. Allein schon Gaimans Geschichte würde das lohnen…
© 2005 by Uwe Lammers
Tja, da wird einem der Mund schon etwas wässrig gemacht… ich sagte ja verschiedentlich bereits, dass das Alter von Büchern oder die Tatsache, dass sie nicht mehr im Verzeichnis Lieferbarer Bücher zu finden sind, kein Qualitätskriterium für die Werke an sich darstellt. Das hier ist wieder so ein Fall.
In der nächsten Woche verfolgen wir einen weiteren abenteuerlichen Fall der NUMA-Crew um Kurt Austin und Joe Zavala. Nicht verpassen!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Der Autor Félix J. Palma begeht meiner Ansicht nach im dritten Band seiner „Landkarten“-Trilogie den Fehler, diese Neigung bei Doyle zu gering zu schätzen und ihn deutlich skeptischer sein zu lassen, als es in Wahrheit der Fall war… aber well done, der Roman „Die Landkarte des Chaos“ (für den Rezensions-Blog in Vorbereitung) spielt natürlich auch in einer Parallelwelt von unzähligen, und der hier geschilderte Arthur Conan Doyle ist mit dem unsrigen wahrscheinlich nur bedingt deckungsgleich.
2 Diesem Buch hier wird übrigens ein legendäres Zitat vorangestellt, das angeblich in „Studie in Scharlachrot“ vorkommen soll. Das ist falsch. Ich habe letztgenanntes Buch erst wenige Tage zuvor gelesen. Wahrscheinlich stammt das Zitat eher aus „Der Hund der Baskervilles“.
3 Wer sich übrigens händeringend fragt, woher er Irene Adler kennen sollte, der lese nach in Arthur Conan Doyles Geschichte „Ein Skandal in Böhmen“, im Juli 1891 im Strand Magazine erschienen. Irene Adler ist die einzige Frau, die sich jemals mit Holmes messen konnte.
4 Eine Figur, die den Geschichten des Briten William Hope Hodgson entsprungen ist und die leider kaum jemand kennt. Ich habe mich sehr gefreut, Carnacki mal wiedertreffen zu können.