Liebe Freunde des OSM,
es ist manchmal schon richtig erstaunlich, was für faszinierende alte Rezensionen ich in meinem Bestand finde und wie überraschend „gegenwärtig“ sie dann doch letzten Endes sind. Diese hier hat inzwischen mehr als 15 Jahre auf dem Buckel, man kann aber nicht sagen, dass sie signifikant an Aktualität eingebüßt hätte. Damals hätte ich mir selbst nicht träumen lassen, dass ich mal an einem Projekt mitarbeiten würde, in dem es um die Erforschung historischer Zusammenhänge im Dunstkreis so genannter „Biofakte“ geht – also vom Menschen zielgerichtet veränderter (pflanzlicher) Organismen. Einst wurden sie auf konventionellem Weg händisch sortiert und selektiert, durch Kreuzung und maximal mit Röntgenstrahlen und ähnlichen Methoden „optimiert“, heutzutage technisiert man solche Pflanzen auch eben mit Hilfe gentechnischer Verfahren.
Das Trickreiche an den Biofakten, zu denen alle unsere Nutzpflanzen seit Jahrhunderten bzw. vermutlich seit Jahrtausenden zählen, ist die Täuschung des Auges – man sieht diesen Pflanzen eben nicht an, dass sie technisiert worden sind, sondern es wird gern schlicht zwischen „Wildpflanze“ und „Nutzpflanze“ unterschieden… wenngleich solche vermeintliche Trennschärfe trügerisch bleiben muss.
Wir haben uns hier allerdings nicht mit dem Reich der Fungi befasst, um das es im vorliegenden Roman geht. In Form einer recht scharfen Satire auf den Wissenschaftsbetrieb hat der Autor des vorzustellenden Buches sich um eine meist recht stiefmütterlich behandelte Lebensform gekümmert, eben um Pilze. Folgt mir in den bizarren Alptraum eines mit Recht preisgekrönten Buches:
Wenzels Pilz
von Bernhard Kegel
Heyne 10775
368 Seiten, TB
1999; 14.90 DM
Wir leben in einer Zeit des genetic engineering, in dem alles, was alt und „normal“ scheint, auf den Prüfstand gehört und Wissenschaftler an „Optimierungsprozessen“ arbeiten, um noch mehr als nur sechs Milliarden Menschen ernähren zu können. Aber nicht nur für die Welternährung beginnen Gentechniker damit, Pflanzen und Tiere zu verändern. Ausgestorbene Lebensformen sollen ins Leben zurückgerufen werden, andere, die noch gar nicht existent sind, über kurz oder lang künstlich geschaffen werden. Die Visionäre träumen von künstlich gezüchteten Organen, die Transplantationsengpässe verschwinden lassen werden, von maßgeschneiderten Gesundheitsplänen, die hohes Alter, Vitalität und Gesundheit ermöglichen…
Manches davon ist schon in Ansätzen vorhanden, anderes eher ein genetischer Alptraum für denjenigen, der auch nur ein bisschen eingeweiht ist. Denn: zwar hat das Human Genome Project Jahre vor der eigentlichen Zielmarke das menschliche Genom „entschlüsselt“, wie es heißt, aber in Wahrheit ist nur die ABFOLGE der Basensequenzen bekannt und ausgedruckt, und auch nur diejenigen eines „einzelnen“ Menschen, wobei die Daten von mehreren Personen gewonnen und gewissermaßen „zusammengeschnitten“ wurden (was den wenigsten bekannt sein dürfte).
„Entschlüsseln“ heißt jedoch etwas mehr: nämlich herausgefunden zu haben, wie die Basenpaare xy und xx auf Gen tz beispielsweise bei Mensch Q die Krankheit Z bewirken.
Davon ist man aber noch Jahre oder sogar Jahrzehnte entfernt. Schließlich ist jeder Mensch, ungeachtet der weitgehend identischen genetischen Ausstattung ein Individuum, das natürlich ganz eigen auf Medikamente, Stimuli usw. reagiert. Zum zweiten durchschauen die Mediziner und Molekulargenetiker kaum, WAS eigentlich die komplexe Maschine Mensch zum Ticken und Funktionieren bringt, geschweige denn, dass sie die Nebenwirkungen berechnen können, die ihre wunderbaren, „maßgeschneiderten“ Medikamente hervorbringen sollen. Und dass Medikamente TRADITIONELL Nebenwirkungen haben, die sich wie ein Who’s Who der Plagen der Menschheit liest, kann man in jedem Beipackzettel lesen.
Wie schlimm aber muss es dann erst sein, wenn Gentechnik nicht nur auf ein einzelnes Individuum wirken soll, sondern auf ein ganzes Ökosystem losgelassen wird, von dessen Einzelkomponenten man zwar einiges weiß, dessen Gesamtinteraktion aber weitgehend unbekannt ist? Weil bisher eben alles funktioniert hat, „natürlich“ sozusagen. Solange alles funktioniert, kommt niemand auf den Gedanken, etwas zu „ändern“…
Nun, wer den Menschen kennt, ahnt, was geschieht, und selbstverständlich kommt es so und noch viel schlimmer.
In dem Roman „Wenzels Pilz“ geht es exakt um dieses Thema.
Deutschland in der nahen Zukunft: Gentechnik ist allgemein im Einsatz, wird an allen Hecken und Ecken benutzt und von zahllosen Firmen und Pharmakonzernen gezielt zur „Verbesserung“ jener Macken benutzt, mit denen Mutter Natur offenbar die Menschheit ärgern wollte. Die Menschen können die Natur austricksen, seit sie die Gentechnik besitzen und „beherrschen“, und natürlich tun sie alles, was wissenschaftlich möglich und machbar ist.
In England beispielsweise sollen Saurier nachgezüchtet werden (sogenannte Neosaurier), um den Treibhauseffekt einzudämmen, sind sogenannte Assimilatoren gebaut worden, in denen gentechnisch veränderte Algen große Mengen an Kohlendioxid binden. Scheinbar funktioniert das…
Es hat natürlich in der Frühzeit der gentechnischen Revolution die eine oder andere „Panne“ gegeben (z. B. die Freisetzung sogenannter „Schokokäfer“), aber inzwischen, so wird eindringlich behauptet, sei alles unter Kontrolle, Störfälle gäbe es keine mehr, und selbst wenn, würden sie rasch wieder gezähmt und die eventuellen – minimalen – Gefahren für Mensch und Umwelt problemlos gebannt werden.
Diese schöne Illusion wird fast nur von einer Reihe fanatischer und verbissener Öko-Kämpfer bezweifelt. Einige sind als eine Art grüne Terrorgruppe (LAS) in den Untergrund gegangen und verüben Attentate, Bombenanschläge und verteilen einschüchternde Pamphlete. Andere gruppieren sich um die Zeitschrift Gute Nachrichten, in denen eine ökologische und gentechnische Katastrophe die nächste jagt und die Auflagenzahlen in die Höhe schraubt.
Martin Herzberg, einer der Reporter dieses Blattes, ist es auch, der auf einen solchen Skandal stößt: bei einem Norwegenurlaub mit seiner Freundin finden sie ein Waldstück, das seltsam krank aussieht. Als sie näher hinschauen und über einen zerfallenden Zaun klettern, ergreift sie aber das Grausen: der Wald ist von riesenhaften Fliegenpilzen befallen, die einem monströsen Alptraum entsprungen zu sein scheinen. Außerdem suchen riesige Schwärme winziger Fliegen die verwesenden Baumruinen und die infernalisch stinkenden Pilze heim. Herzberg, der eine Bombenstory wittert, informiert seinen Herausgeber. Er ist felsenfest überzeugt: dies ist entartete Gentechnik, der Gen-SuperGAU des Jahrhunderts ist passiert!
Inzwischen hat auch die norwegische Regierung von dieser Sache gehört, und es stellt sich schnell heraus, dass der „bäumemordende Pilz“ von der deutschen Firma GENTEL entwickelt wurde, genauer gesagt von einem bescheidenen, schüchternen Gentechniker namens Kurt Wenzel, der seinen Pilz, Amanita wenzeli, längst vergessen hat und sich nun mit Inbrunst seit Jahren dem neuesten Traum hingibt: der Nordischen Stadtpalme.
Wenzel wird jäh aus seinen optimistischen Träumen gerissen und von seinem Vorgesetzten drastisch aufgefordert, „die Sache in Ordnung“ zu bringen (wie auch immer). Er reist also Hals über Kopf mit einer Molekularbiologin, Dr. Charlotte Uhlich, nach Norwegen und erleidet, als er das Katastrophengebiet erreicht, einen regelrechten Zusammenbruch.
Nicht nur er, sondern auch niemand sonst kann sich erklären, warum der ohne Wenzels Wissen freigesetzte Pilz plötzlich so entartet und zentnerschwere Monsterpilze hervorbringt. Aber sie haben auch keine Zeit, lange zu grübeln – denken die Verantwortlichen – , schließlich ist GENTEL die Hauptinitiatorin der Assimilatoren, und milliardenschwere Verträge winken. Wenn jetzt nur das leiseste Zweifeln an der Perfektion der GENTEL aufkommt, ist die Hölle los…
Also findet man eine rasche Lösung mit Hilfe eines Fliegenfachmannes, des versponnenen Museumsangestellten Dr. Plodsz. Eine Lösung, von der die Beteiligten hoffen, dass sie Erfolg haben möge. So sieht es auch aus. Oberflächlich. Buchstäblich unter der Oberfläche jedoch verzweigen sich die Gespinste der Pilzwurzeln weiter und warten nur auf die ideale Gelegenheit oder die richtige Stelle, um wieder mit ihrem Zerstörungswerk fortzufahren. Mit jener Tätigkeit, von der NIEMAND weiß, wie sie überhaupt zustande gekommen ist.
Natürlich hat die überhastete, dem Zeitdruck gehorchende Aktion, mit der die GENTEL-Leute das Kapitel für abgeschlossen halten, keineswegs die Wirkung, dass nun alles zu Ende ist. Ganz im Gegenteil. Jetzt geht es erst richtig los…
Wenzels Pilz ist der Romanerstling von Bernhard Kegel und hat den Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Neubrandenburg bekommen, nicht ganz zu Unrecht, wie ich sagen muss. Das Buch, 1997 erstmalig erschienen, kam gerade zu dem Zeitpunkt auf den Markt, als die Gentechnik-Debatte heftig entbrannt war und die Öffentlichkeit im richtigen Maße dafür sensibilisiert war. Es handelte sich sozusagen um das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt. Für die Neuauflage wurde es etwas überarbeitet und mit einem durchaus provokativen Nachwort versehen.
Das Thema ist nach wie vor aktuell, die Gentechnikdebatte ist lediglich etwas abgeebbt, aber die „Gefahr“, vor der Kegel mit seinem Roman warnen möchte, ist nicht verschwunden. Er sagt zu Recht, dass die sogenannte Technikfolgenabschätzung zwar bei technischen Projekten großgeschrieben, bei der „Gentechnik“ jedoch eher kleingeredet wird, insbesondere von den verantwortlichen Firmen und Lobbyisten, aber gerne auch vom Großhandel, der sich von einer „desensibilisierten Öffentlichkeit“ nicht ganz zu Unrecht finanzielle Zuwächse erhofft.
Wenngleich Kegels Roman satirisch überzeichnet, die Personen nicht selten zu Klischees degenerieren und manche Wendung insbesondere zum Ende hin sehr, sehr voraussagbar ist, ist es ihm doch gelungen, ein sehr unterhaltsames und streckenweise anregendes Buch zu verfassen. Der Außenstehende bekommt ein etwas scharf karikiertes Bild des Wissenschaftsbetriebes und seines Innenlebens vorgestellt, das wie üblich zutiefst menschlich ist und auf Karrierewünschen, Egoismen und Rivalitäten beruht, wobei Ausnahmen hier die Regel bestätigen. Als promovierter Biologe weiß der inzwischen als Schriftsteller lebende Bernhard Kegel aus eigener Anschauung, wovon er hier redet. Und er lässt an seinen Kollegen nicht allzu viel gute Haare…
Ähnlich unterhaltsam war er schon mit seinem Nachfolgeroman „Das Ölschieferskelett“, worin ich freilich zu bekritteln hatte, dass er sich mit Zeitparadoxa nicht so ganz auskennt und der Dramaturgie wegen die Logik ausschaltete.
Diesmal möchte ich betonen, dass die Skizzierung der Personen JENSEITS der Klischees doch feiner hätte ausfallen können. Kurt Wenzel als introvertierte, leidende, hilflose Person in den Vordergrund zu zerren, mag ja wirkungsvoll sein, positive emotionale Konnotationen jedoch scheinen mir etwas zu blass. Und manchmal, ja, manchmal bleibt einem Leser das Lachen im Halse stecken, besonders, als es dann zur „Endlösung“ des Problems Amanita wenzeli schreitet…
Ansonsten: empfehlenswert.
© 2001 by Uwe Lammers
Die lange Vorrede signalisiert schon, dass man für das Buch im optimalen Fall ein ordentlich geschärftes Problembewusstsein braucht. Unfälle oder sogar GAUs, Größte Anzunehmende Unfälle (wie im Nuklearbereich bei Tschernobyl oder Fukushima zu beobachten), sind etwas, womit man bei modernen technischen Verfahren immer rechnen muss. Und das hat in diesem Kontext ein äußerst lesenswertes Buch geschaffen, das vermutlich inzwischen weitgehend vergessen ist. Es lohnt dringend die Neuentdeckung!
In der kommenden Woche kümmern wir uns einmal mehr um die Familie von Dirk Pitt und widmen uns einem uralten Mysterium der Menschheitsgeschichte: wo, zum Teufel, hat bloß Troja gelegen. Tatsächlich in Kleinasien auf dem Hügel von Hissarlik? Oder gibt es da noch andere ernsthafte Aspiranten?
Nächste Woche erfahrt ihr mehr.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.