Rezensions-Blog 134: Illuminatus! Band 2: Der goldene Apfel

Posted Oktober 18th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ja, hier kommt also nach vier Wochen der zweite Teil des schrillen 70er-Jahre-Romans um die gewaltige weltumspannende Verschwörungsgeschichte, durch­mischt von Hippie-Phantasien, sexuellen Ekstasen, mythischen Wesenheiten, Zeitsprüngen, Atlantis, telepathischen Delphinen und Schlimmerem… ich sagte ja schon im Blogartikel 130, dass das eine Saga ist, die es echt in sich hat. Dage­gen ist die ganze Metaphysik von STAR WARS wirklich höchst erbärmlich und simpel gestrickt. Das hier fordert euch vollständig, Freunde – ein anspruchsvol­les, höchst amüsantes und verwirrend gestricktes Geschichtengarn.

Ich kann echt nicht anders, als noch mal nachdrücklich dazu aufzufordern, euch dieser Geschichte zu stellen, und mögt ihr auch im ersten Anlauf daran schei­tern (wie ich vor so langer Zeit)… der Stoff ist den zweiten Anlauf unbedingt wert.

Also, bitte anschnallen, es geht weiter auf der wagemutigen Tauchreise des yel­low submarines des ultimativen Anarchisten Hagbard Celine. Und der nächste Tauchstopp erfolgt in… Atlantis!

Vorhang auf:

Illuminatus!

Band 2: Der goldene Apfel

(OT: Illuminatus! – The Golden Apple)

von Robert Anton Wilson & Robert Shea

Kailash, Hugendubel 2002

260 Seiten

Erstausgabe: 1978

Übersetzt von Udo Berger

Also, Freunde, noch mal kurz erden, bevor es dann wieder aufgeht ins zuneh­mend eskalierende Chaos.

Wir erinnern uns: irgendwann so um das Jahr 1975 herum (der Zeitpunkt wird nicht genannt) taumelt die Welt auf einen nuklearen Krieg zu, der sich an einem kleinen Eiland vor der westafrikanischen Küste entzündet, einer Insel namens Fernando Poo. Während die Regierungen der UdSSR, der USA und Chinas der Auffassung sind, die jeweilige Gegenseite habe diesen Konflikt in Szene gesetzt, verhält es sich gänzlich anders. Die Erde ist seit langen Jahrtausenden Schau­platz der Kämpfe von unterirdischen Mächten, die – nach bisherigen Erkennt­nissen – ihren Ursprung auf dem mythischen Kontinent Atlantis haben, der vor 10.000 Jahren im Atlantik versank.

Übriggeblieben ist von dieser uralten Macht der Geheimorden der Illuminaten, der in zahlreichen Verkleidungen und Tarnorganisationen über die Jahrtausen­de hinweg die menschlichen Kulturen infiltriert und gegeneinander gehetzt hat, um die absolute Macht zu erlangen. Wenn wir auf die Weltgeschichte schauen, erkennen wir, dass das bislang fehlgeschlagen ist. Sieht wenigstens so aus.

Die Gegenströmung ist anarchistischer Natur, und als „Frontkämpfer“ dient ge­genwärtig offenbar der geniale Rechtsanwalt, Pirat und U-Boot-Kommandant Hagbard Celine mit seinem yellow submarine LEIF ERIKSON (das ERICKSON in der letzten Rezi war die Übernahme eines hartnäckigen Schreibfehlers im Buch). Mit seinem Geheimorden, der Legion des Dynamischen Diskords, ver­sucht Celine, die Pläne der Illuminaten und zahlreicher anderer Untergrundor­ganisationen zu durchkreuzen. Diese bestehen übrigens, wie man hier rasch im zweiten Buch erfährt, nicht nur in der Entfesselung eines Nuklearkrieges (der hat aber ein monströses, logisches Ziel!).

In Wahrheit geraten sogar die Ereignisse auf Fernando Poo und die um den bri­tischen Geheimagenten 00005 (Eigenname: Fission Chips) ein wenig ins Hinter­treffen. Der Brite verirrt sich etwa in eine Kirche auf Fernando Poo und findet sich hier auf einmal in einer dem Weird Fiction-Leser sehr bekannten Szenerie wieder: in einer Kirche auf dem Federal Hill in Providence, Rhode Island, und er macht zunächst die furchterregende Bekanntschaft mit den Großen Alten und sodann mit dem Dealy Lama unter der Dealy-Plaza in Dallas, Texas, wo einst John F. Kennedy erschossen wurde.

Eine Nebenhandlung avanciert unvermittelt zum Haupthandlungsstrang: näm­lich die um einen Biowaffenexperten, der sich nach Las Vegas zurückgezogen hat, um sich hier von einer Prostituierten verwöhnen zu lassen. Dummerweise ist der Mann mit seiner tödlichen Anthraxvariante vergiftet und bringt somit unabsichtlich sich und die Frau um. Letztere wiederum infiziert ihren Zuhälter Carmel, der daran denkt, das ganz große Geld zu machen, indem er ebenjene Anthraxvariante an Staatsfeinde verkaufen will. Er ahnt natürlich nicht, dass all dies zu den Langzeitplänen der Illuminaten gehört.

Von diesen Plänen gibt es insgesamt drei, und bis der Leser zu ahnen beginnt, was für eine eigentliche Bedeutung das scheinbar unspektakuläre Rockfestival bei Ingolstadt haben soll, das nahe dem Totenkopfsee stattfinden soll, in dem in den Endtagen des Zweiten Weltkrieges von Hitler eine ganze Division Toten­kopf-SS mitsamt Waffen versenkt worden ist (vorher brav mit Zyankali vergiftet, was die Gefahr leider nicht entschärft, wenn die Illuminaten Recht behalten), bis dahin ist alles längst zu spät. Oder vermutlich jedenfalls, denn wie schon im ersten Band gehen die Zeiten und Informationsebenen munter durcheinander, und es trägt definitiv nicht zur logischen Durchdringung des Buches bei, wenn man Hagbards Reden lauscht (die er im nächsten Atemzug als Lügen abtut und dann wieder für die Wahrheit ausgibt), Reden der Illuminaten, die einen Wer­befilm über die Ereignisse im Atlantis vor 10.000 Jahren zeigen (ein kleiner Überrest davon ist übrigens Fernando Poo, wer hätte das gedacht?) oder man sich vergegenwärtigen muss, dass zahlreiche Personen im Buch als Doppel-, Dreifach- oder Fünffach-Agenten in verschiedenen, teilweise absolut konträren Organisationen Mitglied sind und absichtlich und gewollt oder sogar von allen Seiten gefördert Informationen an die Gegner weiterreichen.

Man merkt, die Konfusion nimmt zu, und während Fernando Poo sich offen­sichtlich von selbst entschärft, bekommt man immer deutlicher mit, dass es doch einen übernatürlichen Aspekt an der Geschichte gibt. Schließlich entdeckt der Leser mit Grausen ein fünfeckiges Steingebäude in Atlantis, in dem niemand Geringeres als Yog-Sothoth gefangengehalten wird. Und wenn man dann über­legt, dass die Illuminaten hinter der Erbauung des Pentagon in Washington stecken…

Nach wie vor ein mächtig wilder Stoff, der auch weiterhin ein enzyklopädisches Wissen abverlangt und ziemliche Durchhaltekraft. Viele Dinge erschließen sich erst beim zweiten Lesen, weil man anfangs einfach nicht auf solche merkwürdi­gen Dinge wie etwa im ersten Band vorkommende Handelsgesellschaften wie GOLD AND APPLE TRANSFERS geachtet hat (im zweiten Band erkennt man darin Hagbard Celines Schmuggler-Dachorganisation). Der Leser erfährt eine Menge über die Mythen des modernen Rauschgifthandels, die Protagonisten werden mit zunehmender Informationsfülle immer bereiter, sich mit einer ordentlichen Pfeife Pot ins mentale Nirwana zu begeben, wobei es da auch zu Überschnei­dungen mit anderen Geistern (Quasi-Telepathie), Flashs in die Vergangenheit oder zu beinahe richtiger Illumination kommen kann.

Während unsere beiden Polizisten aus dem ersten Teil fast in Vergessenheit ge­raten, schlingert der Polizist, der auf ihren Spuren wandelt, in Miss Maos Illumi­natenzirkel hinein und verliert seinen Glauben an die Welt; Joe Malik und Geor­ge Dorn, inzwischen beide im Dienste Hagbard Celines, haben genug damit zu tun, das metaphysische Dickicht der Welt zu durchdringen und ihre eigenen Kräfte zu entwickeln; aber da ist dann auch noch Simon Moon, und es gibt diese seltsame Vierlings-Rockband, die in Ingolstadt spielen soll…

Äh, ja, was wollte ich eigentlich sagen? Well, vielleicht soviel, als dass hier na­türlich das letzte Wort noch nicht gesprochen werden kann, sich die Story aber insgesamt nach wie vor ultracool und richtig heftig abgefahren entwickelt. Eins ist sicher: nach diesem Buch braucht ihr keinen Trip mehr, und die Lachkur könnt ihr auch absagen, das wird hier locker erledigt. Jedenfalls für den Fall, dass ihr genügend von dem rafft, was euch die beiden Autoren erzählen wollen. Wer Lovecraft nicht kennt, die Freimaurer, ein wenig von der Geschichte, At­lantis usw. etc., der hat vielleicht mehr die Stirn zu runzeln als zu kichern. Aber von dem Gedanken, dass man unbedingt stoned sein muss, um das Buch zu ver­stehen, bin ich inzwischen weg.

Bin nur mal gespannt, ob es den Großen Weißen Wal wirklich gibt, der angeb­lich die Weltherrschaft anstrebt, oder ob das nur so ein bizarrer Crossover zu Melvilles Moby Dick ist. Im Band 3 mit dem Titel „Leviathan“ werden wir’s er­fahren.

Stürzt euch ins Vergnügen, Jungs und Mädels!

© 2004 by Uwe Lammers

Keine Sorge, so verrückt bleibt mein Rezensions-Blog natürlich nicht. In der kommenden Woche durchreisen wir einmal mehr vertraute Gewässer und schauen uns einen Abenteuerroman von Clive Cussler an. Ihr könnt mir glau­ben, da werden uns gewiss keine telepathischen Delphine begegnen, und auch bestimmt keine Anarchisten.

Was sonst? Nun, da solltet ihr euch, die ihr dieses Buch nicht kennt, mal überra­schen lassen. Nächste Woche einfach wieder hereinschauen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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