Liebe Freunde des OSM,
im Jahre 1997, vor rund zwanzig Jahren also, da sahen viele meiner Rezensionen noch eher wortkarg aus, sie stellten wenig mehr dar als mal mehr oder weniger gut geschliffene Wortspiele, die über den Inhalt des Buches, um das es eigentlich gehen sollte, informierten. Mehr kam es mir dann darauf an, eigene Reflexionen ins Zentrum der „Rezensionen“ zu stellen… und ja, obgleich ich zu diesem Zeitpunkt nun wirklich schon seit mehr als zehn Jahren regelmäßig rezensierte, kamen dann schöne Bücher mit unangemessen knappen Besprechungen aus.
Ein solches Buch war „Und immer wieder die Zeit“ von Alan Lightman, ein kleines, handliches Büchlein mit niedlichen Seiten und wenig Text auf ihnen, das dazu einlud, es gemächlich durchzuschmökern. Zweifellos kam mir damals auch zugute, dass ich Philosophie im zweiten Nebenfach an der TU Braunschweig studierte und Platon in der deutschen Übersetzung nebenher las. Da war ich für derlei Themen sehr empfänglich.
Das vorliegende Werk ist sowohl etwas für die Liebhaber raffinierter Wortspiele als auch für jene spekulativen Geister, die der Auffassung sind, dass sich in der harten Schale der Naturwissenschaften auch ein sinnlicher, faszinierend funkelnder, weicher Kern versteckt. So, wie Historiker von den Welten des „Was wäre wenn…?“ träumen mögen, ohne sich das gern einzugestehen, ganz so ist es bei manchem Physiker.
Und ja, vielleicht galoppieren die Traumpferde der unausgegorenen Gedanken nächtens in jene Gefilde, in denen nicht mehr unsere gängigen Naturgesetze gelten, sondern die potentiellen, möglichen, rekursiven, paradoxen Abläufe die Oberhand gewinnen.
Alan Lightman kleidete diese spekulativen Phantasien in Worte und legte sie einer berühmten Seele sinngemäß in den Schlummergeist. Folgt mir also in das Patentamt von Bern ins Jahr 1905 zu einem kleinen Angestellten, der bald ein berühmter Physiker sein wird:
Und immer wieder die Zeit
(OT: Einstein’s Dreams)
von Alan Lightman
Übersetzt von Friedrich Griese
Hoffmann und Campe
Gebundene Ausgabe
1994, 210 Seiten
Wir schreiben das Jahr 1905 und befinden uns im Patentamt zu Bern. Ein junger Patentamtsangestellter ist zu nachtschlafender Zeit noch immer an der Arbeit und hat soeben das menschenleere Büro betreten, in der Hand sein zwanzigseitiges Manuskript über eine neue Theorie der Zeit. Während er bald darauf an seinem Schreibtisch gegen die Müdigkeit ankämpft, erinnert er sich an all die seltsamen Träume rings um die Zeit, die er in den letzten Wochen gehabt hat, Träume von surrealer, suggestiver Eindruckskraft. Der Mann heißt Albert Einstein, und er hat noch keine Ahnung davon, dass er eines nicht allzu fernen Tages berühmt sein wird.
„Angenommen, die Zeit ist ein Kreis, in sich gekrümmt. Die Welt wiederholt sich, exakt, endlos.
Die meisten Leute wissen nicht, dass sie ihr Leben nochmals leben werden. Händler wissen nicht, dass sie dasselbe Geschäft wieder und wieder abschließen werden, Politiker, dass sie vom selben Pult aus im Kreislauf der Zeit endlose Male reden werden. Eltern bewahren das Andenken an das erste Lachen ihres Kindes, als würden sie es nie wieder hören…“
So beginnt der erste Traum, der erste von insgesamt dreißig, unterbrochen von Zwischenspielen und Illustrationen. In jeder Welt wird die Zeit anders abgehandelt, verhält sich anders. Exemplarisch wird häufig ein Vorfall geschildert oder Anomalien, um zu dokumentieren, was anders ist.
Der Leser lernt in diesen Kapiteln jene seltsame Welt kennen, in der die Täler und Ebenen unbewohnt sind, weil die Menschen nur auf hohen Stelzenhäusern auf den Gipfeln der Berge leben. Dann gibt es jene seltsamen Menschen, die durch die Zeit gefallen sind und sich krampfhaft bemühen, ja nichts zu berühren, um die Vergangenheit ihrer Welt nicht zu verändern. Oder da ist die Welt, in der die Zeit drei Dimensionen besitzt. Jene, in der es Körperzeit und mechanische Zeit gibt. Es existiert eine Welt mit absoluter Zeit, eine mit zähflüssiger Zeit und eine mit rückwärtslaufender. Dann findet man aber auch eine akausale Welt und jene Erde mit dem Mittelpunkt der Zeit…
Oder wie ist es mit jener Welt, die am 26. September 1907 untergehen wird?
„Die Welt wird am 26. September 1907 untergehen. Das weiß jeder.
In Bern ist es wie in allen großen und kleinen Städten. Ein Jahr vor dem Ende schließen die Schulen ihre Tore. Warum noch für die Zukunft lernen, bei einer so kurzen Zukunft? Die Kinder, entzückt, dass sie für immer frei haben, spielen unter den Arkaden der Kramgasse Verstecken, laufen die Aarstraße entlang und lassen Steine über das Wasser hüpfen, verplempern ihr Geld für Pfefferminz und Lakritz. Ihre Eltern lassen sie machen, was sie wollen.
Einen Monat vor dem Weltende schließen die Geschäfte. Das Bundeshaus stellt seine Beratungen ein. Im Bundestelegraphengebäude kehrt Stille ein…“
Jede der Betrachtungen, jeder der Träume hat eine eigene Welt zum Inhalt, manchmal ist das jeweilige Kapitel ungeheuerlich oder subtil, manchmal wunderlich und absurd. Und doch ist die fundamentale Wahrheit die der Zeit, der nichts und niemand entgehen kann. Sie ist allgegenwärtig…
Alan Lightman, Professor für Astrophysik am MIT, ist bislang nur mit Sachbüchern und Aufsätzen bekannt geworden. Doch sein erstes belletristisches Buch „Und immer wieder die Zeit“ ist unbedingt lesenswert, insbesondere, weil es wegen seines stark spekulativen Charakters und der schrulligen Eigenwilligkeit nicht nur etwas für experimentierfreudige Physiker ist (die wahrscheinlich nicht mal das Zielpublikum darstellen), sondern insbesondere für Fans der Phantastik.
Mir hatte es insbesondere das Kapitel auf Seite 177 angetan: was, wenn Zeit ein lokales Phänomen ist? Spannende Frage! Auflösung: in diesem Buch.
© 1997 by Uwe Lammers
Ja, zwanzig Jahre mögen eine lange Zeit sein (ein kleines, kesses Wortspiel angesichts der oben dargestellten Materie, ich bin mir dessen bewusst!)… aber auf der anderen Seite dann doch wieder nicht. Ich denke, es ist stets an der Zeit, dieses Buch mal wieder aus dem Regal hervorzuziehen und sich von den kurzen Vignetten verzaubern zu lassen. Wer weiß, welche faszinierenden Geschichtenkeime aus diesem Werk aufblühen werden, wenn man es erstmals oder wiederholt durchstöbert?
Ihr werdet es sicherlich nicht bereuen, es zu suchen und zu goutieren, davon bin ich fest überzeugt.
Wohin reisen wir in der kommenden Woche? Nun, in gewisser Weise bleiben wir im Metier der Geschichtswissenschaft. Diesmal werden wir einen weiteren „grand old man“ der Geschichtswissenschaft besuchen, der leider auch schon nicht mehr unter uns weilt. Er macht uns bekannt mit „Ungewöhnlichen Menschen“.
Was das bedeutet? Das findet ihr in sieben Tagen heraus, versprochen. Und es lohnt sich!
Ich freue mich auf euer zahlreiches Erscheinen.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.