Liebe Freunde des OSM,
ich gebe zu, das Thema der heutigen Lektüre ist ein wenig… unbequem und vermutlich auch schwer verdaulich. Möglicherweise seid ihr in der Schule schon bis zum Erbrechen im Geschichtsunterricht der jüngsten Vergangenheit mit dem Holocaust traktiert worden und es allmählich leid, die deutsche Geschichte auf diese grässlichen 12 Jahre der NS-Herrschaft begrenzt zu wissen.
In gewisser Weise empfinde ich das recht ähnlich. Wenn man das Phänomen des Nationalsozialismus und des durch ihn realisierten Holocaust an den jüdischen Deutschen und den europäischen Juden in der Weiterung wirklich etwas besser verstehen möchte, muss man die Wurzeln des Ganzen anschauen. Wir müssen dafür meiner Ansicht nach wenigstens bis zur Kaiserzeit zurückgehen, also vermutlich bis 1871.
Das soll heute allerdings nicht das Thema sein. Christopher Browning, dessen faszinierendes wie erschreckendes Buch ich 2003 rezensierte und das mir nach wie vor eminent wichtig erscheint, fragte sich vielmehr, in Abgrenzung zur damals diskutierten These von Daniel Jonah Goldhagen, ob die Deutschen tatsächlich summarisch „Antisemiten“ gewesen seien. Naive Geister vermögen sich vielleicht den Holocaust nicht anders zu erklären.
Nein, sagte er, es waren „ganz normale Deutsche“. Und das macht, global betrachtet, die Angelegenheit so bestürzend wie alarmierend. Denn diese These zeigt anhand der in diesem Buch erläuterten Beispiele, dass dergleichen nicht einfach ein „historisches“ Phänomen ist – erschreckend, ja, aber eben vorbei, und es könne nie wieder passieren, wenn man umfassend darüber aufkläre. Wahr ist vermutlich eher, dass es jederzeit wieder geschehen kann, überall auf der Welt. Und Brownings Beispiele machen das auf beunruhigende Weise deutlich.
In einer Zeit, in der man vom „postfaktischen Zeitalter“ schwafelt und harte Fakten weniger als unausgegorene Bauchgefühle und der blinde Jähzorn auf „das Establishment“ zählen, der Populismus blüht und die Schmähung der Wissensgesellschaft, in solch einer Zeit sollten wir für dieses Buch ganz besonders dankbar sein. Es zeigt einen dunklen Spiegel und reflektiert das ganz normale Böse, das in jeder einzelnen Menschenseele ruht… bis zu dem Moment, wo die Umstände richtig sind, um es zum jähen Ausbruch zu bringen.
Brownings Buch ist erschreckend, ja. Aber es ist wichtig und meiner Ansicht nach voll von bedeutenden Denkansätzen, die nicht vergessen werden dürfen. Folgt mir also in den Zweiten Weltkrieg und in finstere Zeiten:
Judenmord
von Christopher R. Browning
(OT: Nazi Policy, Jewish Workers, German Killers)
S. Fischer, geb., 2001
292 Seiten
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber
Eines der zweifellos größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das im 20. Jahrhundert verübt worden ist, war das planmäßige, eiskalte Vorhaben, die europäischen Juden massenhaft, gewissermaßen fabrikhaft zu liquidieren. Die Nationalsozialisten, so heißt es oftmals, waren Ungeheuer, manische Antisemiten, ja, sie hätten einem „eliminatorischen Antisemitismus“ gehuldigt, der jeden von ihnen zum Monster gemacht habe mit dem einzigen Ziel, Juden umzubringen.
Als der amerikanische Historiker Daniel Jonah Goldhagen diese These vor einigen Jahren der Öffentlichkeit präsentierte1, geriet er sogleich in heftige Kritik, die unter anderem von anderen Historikern geäußert wurde, die bereits zum Holocaust geforscht hatten. Einer von ihnen war Christopher Browning.
Browning gehört zu den Pionieren der Holocaust-Forschung, und mit seinem fast schon legendären Buch „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung’ in Polen“2 ging er hinab auf die unterste Ebene, nämlich die der Biografie und sah sich an, ob die Thesen von den allseits bösen Nazis, die auch vor Goldhagen schon kursierte, richtig sein könne, ob sie sich beweisen ließe – oder eben das Gegenteil.
In Brownings genanntem Buch kam er zu dem Schluss, dass die Männer des Polizeibataillons 101 in der Minderheit eine Persönlichkeitsveränderung durchmachten und sich zu passionierten Mördern entwickelten, also pathologischen Persönlichkeiten. Ein weiterer Anteil der Polizisten versuchte hingegen, sich dem direkten Töten zu entziehen und „neutrale“ Dienstpositionen einzunehmen (z. B. Wachestehen). Insgesamt betraf dies aber nicht mehr als 25-30 % der Personen. Die restlichen Täter waren wirklich „ganz normale Deutsche“, Männer mit Abneigungen, Männer, die Befehlen aus Furcht gehorchten, aber nicht mit dem Herzen dabei waren und dergleichen. Männer, die sich schämten oder Alpträume wegen der Dinge bekamen, die zu tun sie sich gezwungen sahen.
Brownings vorliegendes Buch ist nun eine Sammlung von sechs Vorträgen, die er im Jahre 1999 an der Cambridge University gehalten hat. Sie bauen strukturell aufeinander auf und durchschreiten zwei unterschiedliche Sphären:
Die ersten drei Vorträge rechnen zur organisatorischen Ebene, in denen untersucht wird, wie in unterschiedlichen Entscheidungszentren der deutschen Befehlshierarchie, in Abhängigkeit von individuellen Faktoren und zeithistorischen Gegebenheiten (Kriegslage) die Anordnungen zur Massenvernichtung der europäischen Juden gefasst wurden und wie die Umsetzung aussah.
Die letzten drei Vorträge beleuchten dann mehrheitlich die andere Seite, also die der betroffenen Personen, seien es deutsche Befehlsempfänger vor Ort oder jüdische Opfer. Unter Auswertung von neu entdecktem Quellenmaterial kommt Browning zu einer sehr bemerkenswerten Präzisierung seiner früheren Aussagen.
Im Kapitel 1 „Von der ‘ethnischen Säuberung’ zum Völkermord und zur ‘Endlösung’“ sucht Browning den Übergang festzumachen, ab wann etwa die nationalsozialistische Führung statt der anfangs favorisierten Umsiedlungskonzepte der Juden schließlich das Vernichtungsprogramm initiiert hat.
Im Kapitel 2 „Der Entscheidungsprozess im Machtzentrum“ thematisiert er die maßgeblichen Instanzen, die Rivalitäten zwischen Machtpolitikern und Schergen vor Ort, das beständige Improvisieren und die inneren Widersprüche der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, hier wird besonders auch die Rolle Hitlers und Heinrich Himmlers hervorgehoben.
Im Kapitel 3 „Jüdische Arbeitskräfte in Polen“ erfährt der verblüffte Leser, dass je nach Ort und je nach Konzentration der Bevölkerung die Behandlung der Juden stark variierte. Bisweilen gibt es sogar nationalsozialistische Statthalter, die vehement darauf dringen, die Juden besser zu versorgen, um die Wirtschaftslage vor Ort zu erhalten. Etwas, was man nach Goldhagen beispielsweise nun in keinem Fall erwarten würde.
Im Kapitel 4 „Die ‘Arbeitsjuden’ und die Erinnerungen der Überlebenden“ werden wir mit dem Arbeitslager Starachowice konfrontiert, in dem sehr lange Zeit eine extrem niedrige Todesrate zu verzeichnen war. Manches, was der Leser hier mitbekommt, stülpt auch seine Vorstellung von Nationalsozialisten auf den Kopf, und Browning beginnt hier immer deutlicher, auf die biografische Grundebene hinzuarbeiten, was ihm exzellent gelingt.
Im Kapitel 5 schließlich, „Deutsche Mörder – Befehle von oben, Initiativen von unten und der Ermessensspielraum der örtlichen Instanzen“ hebt der Autor die von älteren Holocaust-Forschern energisch beharrlich vertretene Behauptung auf, man müsse für die Vernichtung der Juden vor Ort unbedingt so etwas wie einen Führerbefehl vorweisen können. Das ist keineswegs der Fall, und das behandelte Beispiel Brest-Litowsk macht sehr deutlich, wie höchst unterschiedlich die Nationalsozialisten von Fall zu Fall handeln konnten.
Kapitel 6 endlich, „Die Vollstrecker des Judenmords“ vergleicht verschiedene Orte der Vernichtung. Es geht, konkret gesprochen, um die Dienstakten des Schutzpolizeireviers im ostoberschlesischen Czeladz, dann um Briefe eines Angehörigen des Polizeibataillons 105 aus dem Baltikum und schließlich um die Ermittlungsakten anlässlich eines Judenmassakers, das das im November 1942 in der Nähe von Bialystok durchgeführt wurde. Hier bekommen wir so unterschiedliche Sichtweisen, so gravierende Wechsel in den Verhaltensweisen und bestürzende Detailfälle zu Gesicht, dass jeder, der bis hierher glaubte, „Nazi“ sei gleich „Nazi“, merken muss, dass er völlig scheuklappenblind durch die Welt getaumelt ist.
Brownings außerordentlich gut lesbare Vorträge erhellen eine Reihe faszinierender und sehr wichtiger Fakten über die Genese des Holocaust. Die psychologischen Erkenntnisse, die man daraus ziehen kann, sind aber nicht alleine auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs oder auf das deutsche Volk beschränkt. Ganz im Gegenteil.
Es kristallisiert sich immer deutlicher heraus, am prägnantesten im letzten Kapitel, wie sehr es auf den Ort ankommt, an dem die deutschen Soldaten oder Polizisten, Postbeamten und Bäcker (!) eingesetzt wurden, um Juden zu ermorden. An manchen Stellen ziehen die Männer los, um auf eigene Faust Juden zu erschießen und jeden einzelnen Toten akribisch in ein Buch einzutragen, an anderer Stelle begrüßen sich Juden und Deutsche noch 1942 und schütteln einander sogar die Hände, worüber der Vorgesetzte Fassungslosigkeit und Wut äußert.
Das soziale Netz, der Faktor der Vertrautheit, die psychologische Individualität, der Gruppendruck, das Alter… all das spielt wichtige Rollen, und letzten Endes muss der versierte Leser Browning Recht geben: niemand kann den Holocaust mit einem vernichtenden Rundumschlag, der alle Leute, die ein NS-Parteibuch trugen, in Bausch und Bogen verdammt, erklären. Wenn man auf die unterste Ebene kommt, die der Biografie, die für das Verständnis unabdingbar ist, findet man Dinge, die man niemals erwartet hätte, und man entdeckt sehr verstörende Überraschungen, die schließlich klarmachen, dass man letzten Endes jeden Täter einzeln unter die Lupe nehmen muss. Jeden einzelnen. Die Massenbewegung löst sich in ihre Atome auf, und sie offenbart, dass es Schwarz und Weiß nicht gibt, sondern nur Grau in verschiedenen Abstufungen.
Subtil und unterschwellig spürt der Lesende auch, dass das, was Browning für die deutsche Geschichte hier erarbeitet, auch auf die gesamten restlichen menschlichen Gesellschaften zutreffen kann. Der Holocaust ist keine deutsche Sonderrolle, die Deutschen sind nicht pathologischer als andere Völker, sondern wenn „ganz normale Männer“, um es zu wiederholen, sich in Mörder verwandeln können, zum Teil wenigstens, und wenn dies von Befehlen, persönlichen Erinnerungen und sozialen Verhältnissen herrührt, dann muss man unangenehm berührt begreifen, dass solche mörderischen Exzesse immerzu möglich sind, überall. Und wenn wir dann an das ehemalige Jugoslawien denken, an Ruanda oder Israel heute, dann mag dem einen oder anderen schon ein eisiger Schauer über den Rücken laufen.
Wer das aus diesem Buch mit nach Hause nimmt und womöglich zudem ein neues Verständnis für diesen Teil unserer Geschichte entwickeln möchte, weg von den althergebrachten Klischees und Totschlagargumentationen, der ist hier genau richtig. Genießt das Buch, das ist es wert.
© 2003 by Uwe Lammers
Wie gesagt, schwer genießbare Kost – insofern ist der letzte Satz vermutlich etwas flapsig formuliert. Es ist ein äußerst wertvolles Buch mit tiefsinnigen Gedanken, das gut durchdacht und zur Weiterbildung verwendet werden sollte.
In der kommenden Woche wenden wir uns dann wieder dem klassischen Abenteuerroman zu… allerdings auch nicht ohne sozialpolitischen Background, denn da geht es unter anderem um Menschenschmuggel… das ist ebenfalls leider bis heute ein trauriges Problem.
Bis dann, meine Freunde.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996
2 Die 2. Auflage erschien 1998.