Rezensions-Blog 117: Arbeit poor

Posted Juni 20th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Amerika hat gewählt – einen neuen Präsidenten nach Barack Obama, der das Weiße Haus als eine Person verlässt, die den Friedensnobelpreis erhalten hat (nach vielfacher Ansicht zu Unrecht, mindestens aber zu früh), und der wenigs­tens ein Versprechen eingehalten hat: er hat mit Obama Care eine Form des Krankenversicherungsschutzes etabliert, der seinen Namen in die Geschichtsbü­cher einschreiben wird. Das kann man vermutlich als sicher annehmen.

Die Befürchtung, sein Amtsnachfolger werde ein Republikaner werden, beruhte auf einer 50:50-Chance und bewahrheitete sich leider. Womit allerdings selbst Analysten nicht rechneten, das war der kometenhafte Aufstieg des rüpelhaften Milliardärs Donald Trump zum erfolgreichsten Kandidaten der Republikaner und letztendlichen Sieger der Präsidentschaftswahl.

Erschütterung allüberall. Wie konnte das geschehen? Wie konnten all diese Pro­gnosen versagen, all die gut geschulten, in zahllosen Wahlkämpfen gestählten Journalisten? Wieso konnte dieser offensichtliche Quereinsteiger all die Polit­profis ausspielen?

Da haben viele Leute ihre Stimme an den Wahlurnen abgegeben, die sonst nicht zur Wahl gehen“, hieß es. Und das ist höchstwahrscheinlich ein wesentli­cher Grund für Trumps Erfolg. Eine Protestwahl gegen das Establishment, gegen „die da oben“, gegen die aktuelle Politik, auch gegen die krassen Einkommens­unterschiede und das Chancengefälle, das in den USA existiert.

Vor ein paar Jahren habe ich ein sehr interessantes Buch gelesen, das vielleicht einen wichtigen Mosaikstein in dieses Puzzle einfügt und verstehen hilft, was da passiert ist. Denn wenn man wissen möchte, wie Trump an die Macht gekom­men ist, dann sollte man sich nicht mit dem Tunnelblick auf eine Trump-Bio­grafie begnügen. Man muss seinen Horizont weiten.

Man muss, wie weiland Günter Wallraff in den 80er Jahren, inkognito an die Wurzel der Gesellschaft abtauchen und sich dort umhören, wo die Underdogs der heutigen Gesellschaft zuhause sind. In der Arbeitswelt der USA. In einem Land der krassen Einkommensunterschiede, in dem vermeintlich jeder, der wirklich arbeiten will, auch Arbeit finden wird und davon leben kann. Wo das „Recht auf Scheitern“ ebenso respektiert (und meist ausgenutzt) wird wie bru­tale Schikane der Wehrlosen zur Anwendung kommt.

Dies könnte, vorsichtig ausgedrückt, ein rein amerikanischer Tunnelblick sein. Aber ihr werdet bei der Lektüre der folgenden Seiten erkennen, dass diese Per­spektive zu kurz griffe. Zugegeben: es herrscht nicht mehr die CDU-FDP-Regie­rung wie damals, als ich diese Zeilen schrieb. Ebenfalls eingestanden: die 1-Eu­ro-Jobs haben sich als Flops erwiesen und wurden mehrheitlich kassiert.

Aber: auch hierzulande ist die Politikverdrossenheit extrem stark ausgeprägt. Auch hierzulande stehen zahllose Politiker, Journalisten, Konzernchefs im Bann des Schlagworts von der „postfaktischen Gesellschaft“, in der weniger die har­ten Fakten zählen als diffuse Gefühle. Und ich würde mal vorsichtig prognosti­zieren, dass der zuweilen zweistellige Stimmenzuwachs der AFD eine bedrohli­che Grundstimmung am Boden der Gesellschaft artikuliert, die durchaus im­stande ist, unsere Gesellschaftsordnung zu erschüttern.

Ja, Barbara Ehrenreichs Blick richtet sich zentral auf die USA. Aber in der neoli­beralen Gesellschaft von heute, die globalisiert ist wie vielleicht niemals zuvor, kann eine solche Gesellschaftsordnung nicht auf ein Land beschränkt bleiben. Und ein Präsident Trump, der als hartleibiger Erzkapitalist sein Vermögen gemacht hat und dabei wahrscheinlich skrupellos über Leichen gegangen ist, dürfte der denkbar schlechteste Garant dafür sein, dass die Dinge sich unter seiner Ägide zum Besseren entwickeln.

Vielleicht gilt dies auch weltweit. Werft am besten mal einen mahnenden Blick in das folgende Buch und schaut, ob ihr eure Arbeitswelt darin wiedererkennt. Und falls ja, dann schlage ich vor – wehrt den Anfängen!

Auf ins reale Abenteuer:

Arbeit poor

Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft

(OT: Nickel and Dimed. Or (not) getting by in America)

von Barbara Ehrenreich

Verlag Antje Kunstmann

München 2001

160 Seiten, geb.

Aus dem Amerikanischen von Niels Kadritzke

ISBN 3-88897-283-3

Niedriglohnjobs werden nicht erst seit gestern, sondern schon seit einer ge­raumen Weile als die zielführende Lösung in einer neuen Arbeitswelt ange­priesen, in der sich die bestehenden, dauerhaften Lohnverhältnisse zunehmend in Nichts auflösen. Es wird von den Apologeten dieser Lösung behauptet, dass die künftige Arbeitswelt flexibler sein müsse als die einstiger Zeiten, dass man sich nicht darauf verlassen könne, in einem Betrieb zu lernen, nach der Ausbil­dung übernommen zu werden und dort bis zu seiner Verrentung Jahrzehnte später zu verbleiben.

Es ist weithin unstrittig, dass solche Beschäftigungen heute – leider – eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Doch die Argumentation geht ja noch weiter: die allgemeine Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsverhältnis­sen setze natürlich eine Menge Arbeitnehmer frei, aber zugleich erwachse dar­aus auch eine neue Freiheit für die Arbeitnehmer. Die Lockerung von Kündi­gungsschutz biete für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber Anreize, insbesondere na­türlich für die Arbeitgeber, die nun in der Lage wären, kurzfristig Arbeitskräfte anzuheuern und bei konjunkturellen Flauten auch rascher wieder zu entlassen. Die Lohneinbußen, die bei den Werktätigen dadurch entstehen könnten, wür­den durch die Schaffung von Minijobs und durch geringfügige Entlohnungsver­hältnisse auf einem entsprechenden Niedriglohnsektor, der parallel zum ersten Arbeitsmarkt entstehe, weitgehend aufgefangen. Und wer Arbeit habe, und sei es auch nur solche mit geringer Entlohnung, der sei doch damit nicht in die Ar­mut entlassen worden. Leider ist das nicht nur ein Stammtischargument, auch Politiker führen es im Munde.

Kritiker, die diese Lösungen skeptisch beäugten, als Ende der 90er Jahre dieses Jobmodell in Deutschland Schule zu machen begann, wurden gern auf das Amerika der Clinton-Ära verwiesen, wo angeblich ein Jobwunder Fuß gefasst hatte und gut 4 Millionen Frauen in neu geschaffenen Billigjobs Arbeitsverhält­nisse eingingen und so aus der Arbeitslosenstatistik verschwanden. Notwendig und erwartungsgemäß wurde diese Offensive natürlich als großer Vorteil angepriesen und als Erfolg der Reformpolitik.

Aber die Kritiker verstummten nicht. Gerüchte kamen auf: von prekären Le­bensverhältnissen. Von Ansturm auf Wohlfahrtsstellen, wie er noch niemals in der Geschichte zu sehen gewesen war. Von Menschen, die ihr Auskommen nicht fanden, OBGLEICH sie Arbeit hatten…

Irgendetwas an dem leuchtenden Vorbild Amerika stimmte offensichtlich nicht. Aber was?

Die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich, aus gewerkschaftlich orien­tiertem Elternhaushalt stammend, war vielleicht ein wenig leichtsinnig, als sie, wie sie in der Einleitung schreibt, ihrem Verleger Lewis Lapham von Harper’s Magazine bei einem Abendessen vorschlug: „Ich bestellte, glaube ich, Lachs mit Feldsalat und versuchte ihm [Lapham] neue Ideen nahezubringen, die irgend­wie mit Popkultur zu tun hatten, als wir auf eines meiner alten Themen zu spre­chen kamen – Armut. Wie kann ein Mensch von den Löhnen leben, die heutzu­tage für ungelernte Arbeitskräfte gezahlt werden? Wie konnten insbesondere die etwa vier Millionen Frauen, die als Folge der Clintonschen Reformen der So­zialfürsorge auf den Arbeitsmarkt drängen, mit einem Stundenlohn von sechs oder sieben Dollar über die Runden kommen? Dann sagte ich etwas, was ich seitdem schon des Öfteren bereut habe: ‚Es müsste mal wieder jemand mit die­ser altmodischen journalistischen Methode rangehen – einfach losziehen und es selber rausfinden.’ Ich dachte dabei an Leute, die viel jünger sind als ich, sagen wir, an eine ehrgeizige, ungebundene Nachwuchsjournalistin, die sich dafür sehr viel Zeit nimmt. Aber da hatte Lapham schon sein enthusiastisch glimmen­des Lächeln aufgesetzt und sprach nur das eine Wort: ‚Du.’ Damit war mein gewohntes Leben zu Ende, jedenfalls für längere Zeit…“

Barbara Ehrenreich macht sich auf die Reise in die eigene Dienstleistungsgesell­schaft in den USA. Sie betreibt investigativen Journalismus an vorderster Front, inkognito wie Günter Wallraff es in Deutschland getan hat, und was sie ent­deckt, ist durchweg schockierend und entspricht in keiner Weise dem, was die vollmundigen politischen Verlautbarungen oder Arbeitslosenstatistiken dem Durchschnittsbürger beruhigend suggerieren.

Ehrenreich beginnt ihre private Jobkarriere im Niedriglohnsektor in Florida, wo sie sich in eine vermeintlich entspannende Serviererinnentätigkeit orientiert. Aber die Probleme beginnen eigentlich schon vorher, und sie ziehen sich wie ein roter Faden durch alle weiteren Beschäftigungen: da ist das Problem der Vereinbarkeit von Dienstanfahrtswegen und bezahlbaren Unterkünften. Da ist die Frage der Sozialversicherung und der damit zusammenhängenden Kosten. Da ist schließlich die Frage, die eingangs gestellt wurde: wie kann man mit ei­nem so geringen Verdienst über die Runden kommen?

Die Antwort auf letztere Frage ist ihr schnell klar: gar nicht.

Die Konsequenz daraus besteht aber nicht in dem, was man normalerweise er­warten würde – such dir einen besser bezahlten Job (für die solcherart schlecht qualifizierten Arbeitskräfte gibt es keine besseren Jobs, jedenfalls für die weitaus meisten von ihnen mit ihren beschränkten Möglichkeiten nicht). Nein, die Antwort lautet vielmehr: such dir einen Zweitjob!1 Und hoffe, dass du er­stens die Belastung überstehst (denn das bedeutet oftmals einen Arbeitstag von 15-16 Stunden, manchmal sechs Tage die Woche, manchmal noch länger, nonstop!), zweitens nicht krank wirst2 und drittens DANN mit dem Geld endlich hinkommst.

Es ist schon ein wenig schockierend, in Barbara Ehrenreichs erstem Kapitel „Servieren in Florida“ zu entdecken, dass sie sich in ihrem Zweitjob in einem Al­tenheim, wo sie mit Demenzkranken umzugehen hat (also, wenn man so will, auch eher am Rande der Gesellschaft, wo leider häufig genug Menschen mehr abgeladen als wirklich gepflegt werden), wohler und besser fühlt als in dem Servierjob, der sie langsam, aber sicher verschleißt.

Nach dieser ersten, erschütternden und strapaziösen Begegnung mit der Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft (denn als so etwas wird der Niedrig­lohnsektor ja angepriesen! Nicht zuletzt auch hierzulande), reist die Journalistin in den gut situierten Nordwesten der Staaten, wo die prächtigen Villen in Maine stehen und händeringend Arbeitnehmer gesucht werden. Nun gut, so schlimm kann es nicht sein, denkt sie, der Stundenlohn ist auch höher, und ein wenig Putzen kann ja wohl nicht undenkbar sein…

Im zweiten Kapitel „Schrubben in Maine“ macht Ehrenreich dann die desillusio­nierende Entdeckung, dass die Putzfirmen und Putzkolonnen noch weit drama­tischer sein können. Gewerkschaftlicher Schutz? Fehlanzeige. Arbeitspausen? Nur, wenn die eng gesetzten Termine es zulassen (was meistens nicht der Fall ist, so dass die Arbeitnehmerinnen teilweise in atemberaubendem Akkord­tempo ganze Vormittage von einer Villa zur nächsten hetzen und dabei mit­unter noch von skeptischen, misstrauischen Hausherrinnen, die Diebstähle be­fürchten, beaufsichtigt werden). Arbeitsunfälle, und das ist für Barbara Ehren­reich dann besonders erschütternd, erzeugen bei den Arbeiterinnen, die sie er­leiden, durchaus nicht etwa den Wunsch, einen Tag frei zu nehmen und viel­leicht zum Arzt zu gehen… nein, sie sind meist so devot konditioniert, dass ih­nen dieser Unfall auch noch Leid tut und sie trotzdem weiter arbeiten wollen… oder müssen, weil sie es sich nicht leisten können, auch nur eine Stunde Ar­beitsentgelt zu verlieren. Dann lieber die Gesundheit ruinieren…

Das kann es doch wirklich nicht sein, denkt die Undercover-Journalistin! So kann doch diese neue Gesellschaft nicht funktionieren, schon gar nicht langfris­tig! Und doch scheint es flächendeckend so zu sein. Es gedeihen Wohnwagen-Trailerparks, die von Horden von Billiglohnarbeitern bewohnt werden, weil die­se sich in der Nähe der Städte, in denen die Arbeit nun einmal zu finden ist, kei­ne gescheiten Unterkünfte besorgen können.3 Ehrenreich entdeckt Motels, in denen Wanderarbeiter zum Teil jahrelang Dauerbewohner sind, oftmals unter katastrophalen sanitären und hygienischen Bedingungen und nicht selten mit vielen Personen in einem kleinen Zimmer (um die horrenden Unterkunftskosten bezahlen zu können), weil sie beim besten Willen das Geld für die Kaution einer normalen Mietwohnung nicht aufbringen können.

Also versucht sie schließlich in der dritten Arbeitsrunde im Mittelwesten ihr Glück, in einer Region, in der Stundenlöhne um die acht Dollar liegen und an­geblich rege Nachfrage nach Arbeitskräften besteht. Von den Erlebnissen bei diesem Abenteuer berichtet sie im dritten Kapitel „Verkaufen in Minnesota“. Nach wie vor gibt sie sich, des Experiments willen, als ungelernte Arbeitskraft aus… und macht die nächsten ernüchternden Erfahrungen.

Beispielsweise mit den Einstellungsfragebögen, in denen man inquisitorisch und entgegen allen Arbeitsrichtlinien über das Privatleben ausgefragt wird, alle Ent­scheidungen der Firmenleitung kritiklos anerkennen soll (wie auch immer sie ausfallen!) und unverhohlen nach kriminellen Vorstrafen oder der Einstellung befragt wird, was man wohl täte, wenn man Kolleginnen und Kollegen beim Stehlen erwischte…4 ganz zu schweigen von den „obligatorischen“ Drogentests, die man über sich ergehen zu lassen hat, wenn man überhaupt in die nähere Wahl kommen möchte.

Barbara Ehrenreich landet bei dem in unserem Land schon übel beleumunde­ten Wal-Mart und nimmt noch einen Zweitjob an, um finanziell über die Run­den zu kommen… und macht die Entdeckung, dass „sicherheitshalber“ der Lohn der ersten Arbeitswoche vom Arbeitgeber einbehalten wird, um erst verspätet ausgezahlt zu werden. Was im Klartext heißt: wer deine Unterkunft in der Zeit bezahlt, steht irgendwo in den Sternen, wovon du dann lebst, genauso, und wenn die Arbeitnehmer nach der ersten Woche nicht mehr wiederkommen, ha­ben sie umsonst gearbeitet…

Rosige Arbeitnehmerzukunft!

Es ist nicht nur nicht alles Gold, was glänzt, sondern das meiste in der Arbeits­welt der USA ist dazu auch noch gefälscht, frisiert, manipuliert und in einer so extremen Weise geschönt, dass die hohlwangige, ausgemergelte und in jederlei Beziehung ohne gewerkschaftlichen Schutz ausgebeutete Arbeitnehmerschar, die mental so gedrillt wird, dass sie auch noch dankbar dafür ist, eine solche Wegwerfarbeit in einer Gesellschaft der extremen ökonomischen Unterschiede als „Almosen“ bekommen zu haben, sich langsam aber sicher zu Tode arbeitet. Und von den Arbeitgebern wird das nicht nur billigend in Kauf genommen, son­dern sogar mehrheitlich begrüßt! Mangels Alternativen, sollte man resignierend hinzufügen.

Wer mit derlei Arbeitsmodell nicht genügend Geld erwirtschaften kann, um am Leben zu bleiben, kann ja zur Wohlfahrt gehen… was Barbara Ehrenreich dann auch tun muss, um trotz zwei Jobs (!) zu existieren. Auch diese Erfahrung ist le­senswert und überaus erschütternd…

Als Fazit zieht Barbara Ehrenreich im Abschnitt „Bilanz“ die summarische Er­kenntnis aus ihren Erlebnissen, dass das Jobwunder in den USA auf scheinheili­gem Etikettenschwindel beruht, und ihre weiter gehenden Schlüsse kommen uns sehr vertraut vor: Wenn Menschen mit zwei Jobs, die sie notwendig auf­grund der Lebenshaltungskosten annehmen MÜSSEN, sagt sie, finanziell gleich­wohl nicht über die Runden kommen (und das ist der Normalzustand), dann ist die vollmundige Behauptung von Unternehmerseite und den Lobbyisten in der Politik, wer Arbeit habe, habe ja wohl auch sein Einkommen und könne nicht als arm gelten und sei folgerichtig auch kein Sozialhilfefall, offensichtlich ebenso veraltet wie die altmodische Vorstellung eines Jobs, in dem man bis an sein Le­bensende arbeitet. Die Wirklichkeit sieht vielmehr genau gegenteilig aus:

Der Sozialstaat entlässt mehrheitlich ungelernte oder gering qualifizierte Ar­beitskräfte auf einen Arbeitsmarkt, der durchaus raubtierkapitalistisch organi­siert ist und die Arbeitskräfte nach besten Kräften ausbeutet. Arbeitsschutzvor­schriften, die in jahrhundertelangen Kämpfen mühsam erstritten werden, ero­dieren auf diesem Sektor binnen weniger Jahre, die Gewerkschaften – zumin­dest im Bereich der USA – sind mehrheitlich zerschlagen und wirkungslos.

Die meisten so behandelten Arbeitnehmer sind zudem derartig eingeschüch­tert, dass sie weder Protest wagen noch gar Klagen (wofür sie im Übrigen meist auch gar kein Geld haben, von der Zeit einmal zu schweigen). Das sind dann also die Underdogs, auf deren Schultern wie in alten Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert die Wohlhabenden und Reichen ihre rauschenden Feste feiern, wobei sie keinen Blick für die geknechteten, gepeinigten Kreaturen unter sich haben, die ihren Wohlstand erst möglich machen.

Ja, dachte ich mir bei der Lektüre manches Mal fassungslos, wo sind wir denn hier? Im Marxschen 19. Jahrhundert? Ist dies die Zeit, in der Friedrich Engels mit Marx die flammenden Schriften an die Arbeitnehmerschaft schrieb und für mehr Arbeitnehmerrechte eintrat? Ist dies die Zukunft der Arbeitswelt, die voll­mundig beschrieben wird?

Das kann es doch wohl wirklich nicht sein!

In einem bewegenden Nachwort von Horst Afheldt, das auf die deutsche Situa­tion Bezug nimmt, versucht er, eine quantitative Definition von Armut hierzu­lande vorzunehmen und erklärt dann die Abhängigkeit von Lohnhöhe und Ex­portwirtschaft. Ein paar seiner Sätze sind es wert, hier zitiert zu werden: „…zu den Kosten gehören selbstverständlich auch die Arbeitskosten. Minimierung der Löhne ist zwangsweise… die Devise der Arbeitgeber, die unter unmittelbarem Konkurrenzdruck stehen. Und je mehr die Masseneinkommen im Inland zurück­gehen, desto abhängiger wird man vom Export.“

Das sieht man bekanntlich am Wirtschaftsstandort Deutschland unbestreitbar.

Weiter Afheldt: „Die Schwächung der Binnenmärkte aber schwächt wieder das vielbeschworene Wachstum der Volkswirtschaften. Und so überrascht nicht, dass, entgegen aller Beteuerungen der Neoliberalen, die liberalisierte Wirt­schaft weltweit gesehen keineswegs sehr erfolgreich ist. Noch jede neue Libera­lisierungsrunde wurde mit der Verheißung nie erlebter Wohlstandssteigerungen propagiert. Nichts davon ist eingetreten. Das preisbereinigte Welt-Sozialprodukt steigt vielmehr seit 1950 ziemlich streng linear, und das bedeutet eine Abnahme des jährlichen Wachstums – und nicht die versprochene Zunahme.“5

Das ist schon ernüchternd genug. Aber die Erkenntnisse von Barbara Ehrenreich mit dem Billiglohnsektor in den USA, die allmählich dank der Verbreitung der Billigjobs, der 400-Euro-Jobs und der „Arbeitsgelegenheiten“, wie die 1-Euro-Jobs in der Nomenklatur der Agentur für Arbeit genannt werden (beide Be­schäftigungsverhältnisse sind klare Indikatoren für spätere Altersarmut, aber das ist die negative Kehrseite dieser Art von Beschäftigung, die gern unter den Teppich gekehrt wird… was kümmern mich die Kosten von morgen oder über­morgen? Ein Rezept, das in der Politik sehr verbreitet ist…6) auch in Deutschland mehr und mehr Anwendung finden können, führen langfristig sowohl zur voll­ständigen Erodierung von Arbeitnehmerrechten, zu weithin verbreiteter Armut in großen Teilen der Bevölkerung sowie, und das thematisiert nun wieder Af­heldt in seinem Nachwort, zu politischer Verdrossenheit. Denn wie reagiert der Staat auf diese Dinge?

Mit der weltweit steigenden Menge an Standortangeboten steigt die Markt­macht des Kapitals. Es ist wie bei den Arbeitseinkommen: Übergroßes Angebot bei begrenzter Nachfrage treibt auch die am Markt um die Industrie konkurrie­renden Gemeinden und Staaten in die Enge. Mit immer neuen Steuersenkungen und Subventionen müssen sie sich um die ‚Standorte’ der Unternehmen bewer­ben. Macht haben sie gegenüber der Wirtschaft nicht mehr. Macht, die es nicht mehr gibt, kann auch nicht vom Volke ausgehen. Aber dass sie das tut, ist die Grundlage der Demokratie. Ohne diese Grundlage wird die Demokratie zur Far­ce, werden Wahlen zu einem Possenspiel. Ihre Ergebnisse ändern nichts – und landauf, landab gehen deshalb auch schon immer weniger ‚Bürger’ zur Wahl…“

Der Befund ist, wenn auch an vielen Stellen vielleicht klassenkämpferisch über­höht, durchaus alarmierend in seiner Substanz. Gleichwohl ist das Buch sehr lesbar, nicht zuletzt wegen Barbara Ehrenreichs grimmigem Witz. Und auch der Klappentext behält Recht, wenn er konstatiert: „Wer wissen will, wie unsere Dienstleistungsgesellschaft von unten aussieht, sollte ‚Arbeit poor’ lesen. Er wird sich fragen, ob wir wirklich leben wollen, ohne uns um die Details zu küm­mern…“

Es ist eine Lektüre, die die Augen öffnet.

© 2010 by Uwe Lammers

Eine grässliche Perspektive? Ja, ich würde das schon so sehen. Eine solche Dienstleistungsgesellschaft wünsche ich keinem Land, und derartige Arbeitsver­hältnisse gewiss auch nicht. Mir scheint, es liegt an uns, solche extremen Aus­wüchse zu begrenzen… aber die Wahl politischer Extremisten will mir nicht dazu gehören. Auch die Auflösung supranationaler Gebilde wie der Europäi­schen Union wird die Dinge eher verschlimmern denn verbessern. Von solchen grotesken Rezepten lassen wir besser die Finger.

Nein, eine konkrete Lösung anzubieten habe ich nicht, dies ist schließlich kein primär politischer Blog. Das werdet ihr auch in der kommenden Woche merken, wo ich wieder mal originär historisch werde und in eine finstere Epoche der Zeit zurückbeame.

In welche konkret? Ach, da lasst euch mal überraschen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Was eine Forderung ist, die inzwischen auch auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ange­kommen ist – das Beispiel USA macht hier auf prekäre Weise Schule! Für das Folgende ist das leider auch zu befürchten.

2 Was dann passiert, kann man in Michael Moores Film „Sicko“ (2008) sehen.

3 Und wohlgemerkt: Barbara Ehrenreich, die sich in dieser Situation wieder findet, ist eine weiße Arbeitnehmerin und lernt in ihren verschiedenen Domizilen durchaus eine Menge weißer Amerikaner kennen, wir sprechen hier also nicht über ein Schichtenphänomen, das Schwarze, Asiaten oder Lateinamerikaner und Mexikaner traditionell benachteiligt (obwohl das zusätzlich noch erschwerend hinzukommt!). Die Armut, die trotz Billigjobs und Zweitjobs grassiert, ist längst in der weißen Mittelschicht angekommen…

4 Wobei sie im Buch ungeniert zugibt, dass diese Tests geradezu dazu zwingen, dass man binnen 15 Minuten etwa ein Dutzend Lügen von sich geben muss, um zu bestehen. Auch das ist doch wenigstens… fragwürdig und spricht weder für diejenigen, die die Fragebögen entworfen haben noch für die Firmenleitungen, die Beschäftigungen von der „obligatori­schen Beantwortung“ solcher Bögen abhängig machen.

5 Man wünschte bei solch klaren Worten wirklich den Strategen der FDP, sie würden mal über das nachdenken, was sie faseln und lieber dieses Buch lesen…

6 Namentlich bei der CDU und der FDP, die leider aktuell an der Regierung sind. Es ist nicht neu, schon der „Kanzler der Einheit“, Helmut Kohl, hat in seiner langen Regierungszeit Un­summen an Schulden auf Kosten der künftigen Generation aufgehäuft. Die Zeche zahlen wir bekanntlich heute.

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