Liebe Freunde des OSM,
auch wenn sich das Folgende vielleicht etwas anders lesen mag, als es erwartet wird, möchte ich ausdrücklich betonen, dass das heute rezensierte Buch ein literarischer Leckerbissen ist, den man wirklich nicht versäumen sollte, wenn man faszinierende, stilistisch und auch ideenmäßig brillante Science Fiction lesen will. James Graham Ballard braucht sich beim besten Willen nicht hinter einem Philip K. Dick zu verstecken. Er ist auf seine Weise singulär, und vermutlich erkennt man eine Ballard-Geschichte selbst dann, wenn der Autor nicht genannt wird.
Mit Ballard kam ich schon vor ewigen Zeiten in Kontakt… das war zwar noch nicht in Wolfsburg, aber unbedingt dann in Gifhorn, als ich seine surrealen Romane „Kristallwelt“ und „Der Sturm aus dem Nichts“ las… ich sollte sie definitiv mal wieder schmökern, fällt mir bei der Gelegenheit ein. Mit seinen wilden Ideen und seiner selbst in mittelmäßiger Übersetzung immer noch beeindruckenden Sprache – die Suhrkamp-Übersetzungen sind dagegen wirklich erlesen, ihr werdet es bei der Lektüre dieses Buches sofort feststellen – zog er mich unabweislich in seinen Bann.
Selbst wenn ich nicht viel von Ballard am Stück lesen kann, weil er wirklich äußerst gehaltvoll ist (sollte ich mal schätzen, würde ich sagen, eine Seite Ballard wiegt von der Schreibdichte sicherlich zehn oder mehr von Peter F. Hamilton auf, obwohl man die beiden so gar nicht vergleichen könnte), zählt er zu meinen designierten Lieblingsautoren der jüngeren Phantastik. Und wie schon im Fall von Ray Bradbury schätze ich mich glücklich, noch zahlreiche seiner Werke hier ungelesen stehen zu haben.
Das Ballard-Vergnügen hört so bald nicht auf, und das ist gut so. Zweifellos werden noch eine ganze Menge Rezensionen seiner Werke folgen. Aber dieses hier macht heute den Anfang. Wer ihn also noch nicht kennen sollte, passe gut auf – es lohnt sich:
Der tote Astronaut
(OT: Low Flying Aircraft)
Von James Graham Ballard
Suhrkamp 940
Frankfurt am Main 1983
192 Seiten, TB
Aus dem Englischen von Michael Walter
ISBN 3-518-37440-0
Diese Anthologie enthält 9 Geschichten des britischen Science Fiction-Autors James Graham Ballard (1930-2009), der zusammen mit zahlreichen anderen Schriftstellern die Form der „new wave“ ins Leben rief. Es handelte sich dabei um eine Art von Science Fiction, die sich von dem früher so beliebten Modus der Space Opera abwandte und sich lieber dem „inner space“ zuwandte, also den Strukturen, die sich in menschlichen Gesellschaften entwickelten, die mit der Zukunft konfrontiert wurden. Autoren wie Philip Kindred Dick oder Michael Moorcock wären in diesem Kontext ebenfalls zu nennen. Doch Ballard fällt ein wenig aus der Rolle durch die konsequente Verfolgung eines Topos, den man zivilisationspessimistisch nennen könnte.
Ballards Geschichten spiegeln üblicherweise eine finstere Zukunft wider. Wir begegnen hier einsamen, oft menschenfeindlichen Landschaften und Settings, zerfallenen Städten, Kulturen im Niedergang und exzentrischen Einzelgängern, die ihre bisweilen irreal wirkenden, ja, manisch anmutenden Träume verfolgen. Manchmal ist man sich als Leser nicht ganz darüber im Klaren, ob die Protagonisten gesünder sind als die sie umgebende Welt, durch die sie wandeln, oder ob sie auf eine sehr ähnliche Weise einen degenerativen Prozess durchmachen, der dem Wahnsinn verwandt ist.
Zugleich hebt aber Ballards faszinierend wandelbare Sprache, die Dichte seiner mitunter recht ausgefallenen Metaphern und die Bildmächtigkeit seiner Prosa die Werke von der bloßen Skurrilität ab und macht sie zu definitiven Erlebnissen im literarischen Sinne. Das trifft auch in unterschiedlichem Maße auf die Geschichten dieser Anthologie zu.
Die ultimate Stadt ist die erste und zugleich längste Geschichte des Bandes mit ihren über 70 Seiten. Sie spielt rund 25 Jahre nach dem Ende des Ölzeitalters und beginnt in einer kleinen, ökologisch und ökonomisch autarken Kleinstadt, die man „Garden City“ nennt. Vieles von dem, was dem Leser hier begegnet, ist uns heute sehr vertraut: regenerative Energien, Sonnenkollektoren und Windräder, die die Energiekreisläufe antreiben. Vollwertiges Recycling, vegetarische Lebensweise… als Ballard diese Geschichte vor nunmehr rund 40 Jahren schrieb, war dies, bezogen auf Amerika, wo sie spielt, fast völlig unbegreiflich (zum Teil ist das wohl heute noch so, wenn man sich anschaut, wie die USA nach wie vor mehrheitlich auf fossile Brennstoffe setzen, diesmal das so genannte Schiefergas via Fracking…).
Etliche Meilen von „Garden City“ entfernt liegt der leere, dumpfe Gigant der einstigen Großstadt, unter der man sich möglicherweise New York City vorstellen könnte (er benennt sie nicht mit Namen). Der Protagonist Halloway, der davon träumt, aus dem beschaulichen Leben in „Garden City“ auszubrechen, vollendet ein Flugzeug, das sein Vater zu bauen begann, und segelt mit ihm hinüber in die verfallene, verlassene Metropolis. Doch entgegen seiner ersten Vermutung ist diese märchenhaft reiche und weitgehend perfekt erhaltene Stadt gar nicht vollständig leer. Es gibt hier noch einige wenige, ebenfalls exzentrische Menschen, denen sich Halloway anschließt. Und dann träumt er seinen Traum vom Wiedererwachen der Großstadt, von der Rückkehr der Menschen in die hohen Straßenschluchten zwischen den Wolkenkratzern – und löst eine Katastrophe aus bei ihrer Umsetzung.
Tiefflieger spielt an der Costa Brava, ebenfalls in der nahen Zukunft. Hier hat eine schleichende Katastrophe einen großen Teil der Menschheit durch Unfruchtbarkeit verschwinden lassen, ganze Landstriche sind wie leergefegt. Nur Forrester, seine schwangere Frau Judith und ein verrückter Flieger namens Gould und ganz wenige einheimische, alte Leute sind zurückgeblieben in der sonst menschenleeren Touristenhochburg Ampuriabrava. Und der schrullige Gould scheint mit seinen Tiefflügen ein eigenartiges Ziel zu verfolgen, das an Wahnsinn grenzt…
Die Titelstory, Der tote Astronaut, ist auf ihre Weise prophetisch. Man lausche nur den Anfangssätzen und denke an die Gegenwart: „Cape Kennedy ist jetzt verschwunden, und seine Abschussrampen ragen aus den verödeten Dünen. Sand ist über den Banana River gedrungen, er füllt die Bäche auf und verwandelt das alte Raumfahrtzentrum in eine Wildnis aus Sümpfen und geborstenem Beton…“ Bekanntlich hat die Obama-Administration tatsächlich das Raumfahrtprogramm auf ein absolutes Minimum gedrosselt, und die Vision dieser Geschichte ist darum nicht mehr so ganz fern.
Was hoffentlich noch weit entfernt ist, ist dann die automatische Ziellandung von toten Astronauten aus dem Orbit. Philip und Judith warten auf eine solche Landung, weil Judith unbedingt Relikte – man könnte auch sagen: Reliquien – des im Orbit verstorbenen Piloten Robert Hamilton an sich nehmen möchte. Eine morbide Andenkenjägerin gewissermaßen, die eine grässliche Entdeckung machen muss, als ihr Wunschtraum sich erfüllt…
Mein Traum, nach Wake Island zu fliegen, ist eine weitere Geschichte, die auf bizarre Weise exotisch ist. Der rekonvaleszente Melville hat sich in ein Haus an den Dünen einer sonst fast völlig menschenleeren Küste – augenscheinlich England – zurückgezogen und träumt davon, nach Wake Island zu fliegen. Die einzigen Menschen in der Nähe sind Dr. Laing und sein Trupp, der abgestürzte Flugzeuge aus dem ufernahen Watt ausgräbt, und die Pilotin Helen Winthrop, die unbedingt nach Südafrika fliegen will. Als Melville in den Dünen einen völlig zugewehten B17-Bomber der Royal Air Force entdeckt, beschließt er, ihn auszugraben, wieder instand zu setzen und damit seinen Traum zu realisieren. Aber es kommt anders…
Leben und Tod Gottes ist eine zutiefst religionskritische Geschichte, die zugleich recht beunruhigend ist. Astronomen entdecken eine gigantische kosmische Struktur, die sie letzten Endes als „Gott“ interpretieren, was zu einer fundamentalen Umwälzung der menschlichen Gesellschaft führt. Aber dieser „Gott“ reagiert offensichtlich auf keinerlei Kontaktversuche. Und so tritt allmählich eine zweite Vorstellung neben die berauschende Idee „Gott existiert“, nämlich die Befürchtung „Gott ist tot“ (womit wir bei Friedrich Nietzsche wären). Und diese Spekulation hat ihre ganz eigenen Schrecken im Gefolge…
Die größte Fernseh-Show der Welt erweist sich als ein grauenhaftes Debakel, aber das ist anfangs noch nicht abzusehen. Im Jahre 2001 (heute ist das amüsant, aber 1976 lag das noch recht weit in der Zukunft) wird ein effektives Zeitreise-System entdeckt, das es ermöglicht, Live-Bilder direkt von historischen Ereignissen in die Gegenwart zu transferieren. Das ist natürlich sehr kostenintensiv, daher wird die Anzahl dieser Geräte strikt limitiert. Aber wie das oft so ist – die ersten, die über hinreichend Finanz verfügen, sind die Medien, die unter notorischem Nachrichtenmangel leiden. Wie faszinierend wäre es da, historische Ereignisse als Real-Events auszustrahlen?
Gesagt, getan… und da landen die Anstalten das erste Mal auf der Nase. Von dem Geballere auf dem Schlachtfeld von Waterloo bekommt man kaum einen gescheiten Eindruck, auch scheinen die historischen Streitmächte viel zu unspektakulär zu sein, um mit den später gedrehten Historienschinken mithalten zu können… doch ist das keine unmögliche Schwierigkeit. Tourismusunternehmen spezialisieren sich nun darauf, historische Ereignisse zu optimieren. Zu wenige Leute bei Jesus´ Verurteilung in Jerusalem? Dann schickt man einfach Komparsen hin, die Stimmung machen. Zu wenige Soldaten auf Napoleons Marsch nach Moskau? Das lässt sich korrigieren.
Und das tollste Ereignis soll dann die Durchquerung des Roten Meeres durch die Israeliten sein, das man natürlich auch live einfangen kann… na ja… oder eben fast. Denn da gibt es auf einmal ein Problem…
Aller Tage Abend bricht an, als die Invasionsarmee die Flussgrenze überschreitet (mutmaßlich die mexikanisch-amerikanische Grenze). Gleich einer Völkerwanderung ist ein riesiger Heerwurm aus den Tiefen Asiens um die halbe Welt gezogen, um nun in die USA einzumarschieren. Aus der kleinen Grenzstadt sind schon alle Menschen verschwunden, ausgenommen der pensionierte Polizeichef Manning und sein Assistent, ein ehemaliger Gebrauchtwagenhändler namens Forbis. Zwei Mann gegen zweihunderttausend oder noch mehr – eine ziemlich ungleiche Rechnung.
Und hinzu kommt dann noch eine Überraschung…
Die Kommsat-Engel sind seltsame Wesen. Auf den ersten Blick wirken sie völlig unscheinbar, doch in Wahrheit sind es exzentrische, ungewöhnlich ruhige, ernste Personen von enorm hoher Intelligenz. Quasi jedes Jahr wird so ein superbegabter Kerl entdeckt, irgendwo auf der Welt. Als sich 1968 der Ich-Erzähler James (möglicherweise tatsächlich Ballard, könnte man sich vorstellen) zusammen mit dem Produzenten des Wissenschaftsprogramms „Horizonte“, Charles Whitehead, auf die Suche nach diesen Wunderkindern der vergangenen Jahre und Jahrzehnte macht, weil beide annehmen, dass diese Kerle doch inzwischen sensationelle Karrieren hingelegt haben müssten, erleben sie eine ernüchternde Entdeckung: Die Leute sind offensichtlich spurlos verschwunden, niemand hat mehr eine Ahnung von ihnen.
Oder jedenfalls fast nicht… und als die beiden begreifen, dass sie hier einem durchaus gefährlichen Geheimnis auf der Spur sind, ist es bereits zu spät…
Die Morde am Strand, die letzte Geschichte des Bandes, dürfte sehr schwierig überhaupt inhaltlich zu erzählen sein. Es handelt sich um eine Art von explosionsartig verstreuten Geschichtensplittern, die zwar aus einem Handlungsstrom stammen, aber von Person zu Person erratisch hin und herspringen und dabei weder Rücksicht auf die Erzählreihenfolge noch auf den konstanten Erzählstrom nehmen. Infolgedessen haben wir hier eine flackernde, stroboskopische Struktur vorliegen, die sehr ungewohnt ist, aber nicht ohne Reiz auf den Leser bleibt. Eine stringente Abfolge muss er freilich entbehren.
Es empfiehlt sich, diese Geschichten in leichter Dosierung zu lesen, vielleicht eine am Tag. Außerdem dürfte es von Vorteil sein, mit den kürzeren zu beginnen, vielleicht mit der Titelgeschichte. Ich hob mir die längste Geschichte bis zuletzt auf, und das war definitiv gut so. Übrigens erinnerte mich „Die ultimate Stadt“ auf interessante Weise an Ballards Geschichte „Die Stadt der Zeit“, die recht ähnlich ist. Welche davon nun besser sein dürfte, überlasse ich dem Urteil der Leser.
Soweit ich es entdecken konnte, gibt es nur eine Tatsache, die den Lesefluss wirklich unangenehm stört. Das betrifft einen Lektoratsfehler, der mich bei einem Suhrkamp-Buch wirklich sehr überrascht hat, zumal er definitiv sofort zu erkennen ist. Wenn Ballard etwa in der Fernsehshow-Geschichte davon spricht, dass man „eine Billion Zuschauer“ erreicht, ist offensichtlich, dass hier das Wort „billion“ (= Milliarde) mit dem deutschen Wort „Billion“ (= 1000 Milliarden) verwechselt wurde. Der Fehler taucht durchgängig im ganzen Buch auf. Das fand ich dann doch ziemlich schade.
Ansonsten ist Ballards unglaublicher sprachlicher Einfallsreichtum, der dem von Ray Bradbury oder Richard Adams gleichkommt, wirklich beeindruckend. Und diese ganze, überwältigende Fülle von Metaphern und bildhaften Sentenzen, Analogien und Vergleichen, von inhaltlichen Details, die kommt besonders stark zum Vorschein in der ersten Geschichte, wo er den durchaus nicht ausschließlich morbiden Charme einer Wanderung durch eine weitgehend menschenleere Großstadt 25 Jahre nach ihrem Verlassen schildert. Und dabei natürlich auch beschreibt, wie die Wildnis die Stadt zurückerobert. Wie Hirsche durch die Straßen wandern, um nur ein Beispiel zu nennen…
Doch, Ballards Geschichten sind heute nach wie vor durchaus aktuell, auch wenn sie auf manchen destruktiv und fatalistisch wirken mögen. Denn wir müssen uns heute mehr denn je mit dem Gedanken anfreunden, dass unser moderner Lebensstil eben nicht bis in alle Zukunft hinein zu halten sein wird. Wenn wir also nicht sehr aufpassen und JETZT mit aller Entschiedenheit in Richtung Bescheidenheit, Zurückhaltung und Nachhaltigkeit gegensteuern, dann sieht unsere Zukunft womöglich dem, was Ballard beschrieb, sehr ähnlich. Und die wüsten Städte seiner Geschichten und die menschenleeren Gestade werden unser Städte und Gestade sein. Diese Mahnung ist heute wohl aktueller denn je zuvor. Dass die Menschheit das begriffen hätte, kann ich leider noch nicht behaupten…
© 2013 by Uwe Lammers
Ja, das ist wirklich eine Rezension, die man sich auch ein wenig auf der Zunge zergehen lassen sollte, nicht wahr? Recht so, Freunde. Und das ist nur ein sehr schaler Abglanz des Buches selbst, um das es ging. Das Buch ist hundertmal interessanter.
In der kommenden Woche schweifen wir wieder in ein völlig anderes Sujet hinüber, das ich vermutlich als Sachbuch klassifizieren sollte. Wir befassen uns mit der modernen Arbeitswelt. Das hört sich unspektakulär an, aber seid versichert – unspektakulär kann die Autorin überhaupt nicht!
Welche Autorin? Schaut einfach kommende Woche wieder rein, dann seid ihr klüger. Ich freue mich auf euch.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.