Rezensions-Blog 114: Boy

Posted Mai 30th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

zwar befindet ihr euch auf einer Website, die sich ausdrücklich nahezu aus­schließlich der Phantastik widmet. Aber wie ihr ebenso genau wisst, bin ich ein vielseitig interessierter Literat und Autor, und die Bandbreite der Themen mei­ner Neugierde spannen sich vom alten Ägypten (und noch früheren Zeiten) bis in fernste Zukunft, von den Abgründen des tiefen Ozeans bis hinauf zu den Ster­nen, von den feinen Wurzeln der biografischen Anfänge bis zu den Schrecken von Alienhirnen, und es gibt noch sehr viele Abstufungen dazwischen.

Ein solcher Bereich, den wir schon gelegentlich streiften, ist der der Autobio­grafie. Und ein solches Werk möchte ich heute vorstellen… selbst wenn der Ver­fasser ausdrücklich betont, er habe keine Autobiografie geschrieben. Hat er na­türlich doch. Man ist fast geneigt, an das erste Gesetz im Umgang mit Doctor Who zu denken: „Der Doctor lügt!“ Ist auch an dieser Adresse nicht völlig fehl am Platze.

Gleichwohl denke ich, dass Roald Dahl den größten Teil der von ihm niederge­schriebenen Erlebnisse tatsächlich durchgemacht hat (mehrheitlich muss man das so formulieren, weil sie wirklich recht exzentrisch, schrullig und bisweilen arg tragisch sind). Dennoch ist das ein sehr vergnügliches Buch, und wer Dahls trockenen, nüchternen Humor mit einem Stich ins Schwarzhumorige schätzen gelernt hat, etwa in seiner Geschichte „Lammkeule“ (das war vor Jahrzehnten im Schulunterricht meine erste Begegnung mit Dahl, und die werde ich nie ver­gessen!), der ist hier exakt richtig.

Wer damit noch keine Berührung gemacht haben sollte, sei ebenfalls aufgefor­dert, weiterzulesen. Ich wage mal die Behauptung: das lohnt sich. Also, Vorhang auf:

Boy

Schönes und Schreckliches aus meiner Kinderzeit

(OT: Boy. Tales of Childhood)

von Roald Dahl

rororo 5693, TB

Hamburg 1986, 206 Seiten

Aus dem Englischen von Adam Quidam

ISBN 3-499-15693-8

Eine Autobiographie ist ein Buch, in dem jemand sein eigenes Leben beschreibt und meistens eine Unmenge langweiliger Einzelheiten ausbreitet, die keine See­le interessieren außer ihn selbst. Dieses Buch ist keine Autobiographie. So etwas würde ich niemals schreiben…“

So fängt Roald Dahl sein durchaus sehr autobiografisches Buch an, in dem er, il­lustriert von vielen Familienfotos und eigenhändigen Skizzen sowie Briefen, die er selbst einst an seine Mutter gehorsam schrieb, seine frühen Lebensjahre be­schreibt und die einprägsamsten Geschehnisse, an die er sich entsinnt. Und wie es der deutsche Untertitel passend auf den Punkt bringt: es gibt Schönes zu er­zählen und Schreckliches. Oder, um noch einmal Dahl zu bemühen: „Manches ist lustig, manches ist traurig, und einiges ist entsetzlich. Genau darum erinnere ich mich wohl auch so lebhaft an die folgenden Geschichten. Wahr sind sie alle.“

An manchen Stellen mag man mit dem jungen Roald Dahl wirklich nicht tau­schen. Ich meine, es ist schon schlimm genug, zu erfahren, warum sein Vater einarmig war (ein ärztlicher Kunstfehler – der betrunkene Arzt hielt den Bruch für einen ausgekugelten Arm und zerrte… nun, das muss man nachlesen). Aber das ist nur die Vorgeschichte. Man erfährt, warum Dahl, der eigentlich norwegi­sche Wurzeln besaß, in England zur Welt kam (weil sein Vater, ein Norweger, der festen Überzeugung war, die englischen Schulen seien die besten der Welt, aber das ist nur ein kleiner Teil dieser Geschichte! Der Rest ist entschieden wun­derbarer und tragischer zugleich).

Wir bekommen seine energische Mutter zu Gesicht, die fünf Töchter und ihren einzigen Sohn – eben „Boy“, wie Dahl genannt wurde (er bekam später dann doch noch einen Bruder), zur Welt brachte und erfahren von einem wilden Fa­milienausflug mit einem der seltenen Automobile, das glattweg einen Unfall baut, was Dahl beinahe seine Nase kostet). Und wir spüren fast an eigenem Lei­be die Nachteile der englischen Schulerziehung – Prügelstrafe, Heimweh, sadis­tische Heimleiterinnen und Schuldirektoren mit einer christlichen Ader, die spä­ter Erzbischöfe werden, was sie nicht daran hindert, mit wahrer Wonne ihre Schutzbefohlenen zu verdreschen und fromme Sprüche zum Besten zu geben.

Man beginnt rasch zu verstehen, warum Roald Dahl einen so schwarzen Humor entwickelte, wie er seine Geschichten nun eben einmal auszeichnet. Das war wohl ganz unumgänglich. Und es handelte sich zweifellos auch um eine Art spä­ter Therapie: Er musste sich manchmal wirklich nur an seine Schulzeit erinnern, um eine tolle Geschichte schreiben zu können, voll mit schrulligen, exzentri­schen Personen und haarsträubenden Geschehnissen.

Aber seien wir bitte gerecht – es gibt ja nicht nur schlimme Dinge in diesem Buch! Mit Begeisterung erinnert sich Dahl beispielsweise an seine Familienaus­flüge, die traditionell nach Norwegen gingen. Wir machen die Bekanntschaft mit dem schrulligen Lehrer Corkers, der zwar Mathematik lehren soll, aber Zah­len hasst und stattdessen lieber seine Schüler ins Lösen von Kreuzworträtseln einbezieht… und was es mit der toten Maus auf sich hat, mit messerstechenden Ärzten, Captain Hardcastle, dem Ziegentabak und Boazers, das sollte man selbst genießen. Selbst bei langsamem Lesetempo braucht man maximal fünf Tage, um durch den schmalen Band zu kommen. Banausen, die sich zu sehr mitreißen lassen, schaffen es vermutlich auch in fünf Stunden. Aber warum sollte man das Lesevergnügen mutwillig so verkürzen?

Natürlich ist das Buch eine Autobiografie, oder wenigstens ein Teil davon. Sehr kurzweilig, mit dem lakonischen Humor niedergeschrieben, der Dahls Werke grundsätzlich ausgezeichnet. Ihr mögt jetzt natürlich, leserspezifisch, fragen: ist es ein phantastisches Buch? Kommen Aliens, Geister oder wenigstens UFOs darin vor? Nein, selbstverständlich nicht.

Aber wenn ihr denn dringend einen solchen Anknüpfungspunkt braucht, denkt an Dahls Biografie selbst – und an den wunderbaren James Bond-Film „Man lebt nur zweimal“ (1966), für den er das Drehbuch geschrieben hat. In dem Film geht es bekanntlich um die Entführung von Raumkapseln und einen dro­henden Dritten Weltkrieg. Beides ist bis heute Phantastik geblieben (Letzteres zu unser aller Glück!).

Genug der Phantastik? Okay. Dann sucht das Buch, das es vermutlich nur noch antiquarisch gibt und verbringt ein paar sehr kurzweilige Lesestunden! Roald Dahl lohnt sich immer. Ihr werdet es sehen.

© 2009 by Uwe Lammers

Auch wenn es acht Jahre her ist, dass ich das Buch gelesen habe, so komme ich doch nicht umhin, ein Schmunzeln über mein Gesicht ziehen zu lassen, wenn ich daran denke… doch, das ist ein kleines, heftiges Schmankerl für Leute mit Lesegeschmack. Mehr Werbung braucht dieses schmale Bändchen nicht.

In der kommenden Woche driften wir wieder hinaus auf die hohe See und fol­gen den Abenteurern von Clive Cusslers NUMA in eine weitere gefährliche Ex­kursion. Welche genau? Nun, schaut in einer Woche einfach wieder herein, dann seid ihr schlauer.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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