Rezensions-Blog 113: Die Welt des Mittelmeeres

Posted Mai 23rd, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ja, es ist schon zwölf Wochen her, seit wir einen explizit historischen Text hier im Rahmen des Rezensions-Blogs betrachtet haben. Damals wandten wir uns Dava Sobels phantastischem Text „Längengrad“ zu. Heute verlagern wir uns ein wenig geografisch und schweifen durch die „Säulen des Herakles“ in den Bin­nenraum des Mittelmeeres. Und man mag es vielleicht meiner Lektüre zugute­halten, dass ich mich anno 2011 so wortreich und formulierungsverliebt äußer­te, wie es für mich eher untypisch ist. Das zeigt nämlich, wie sehr mich die Lek­türe beeindruckt hat.

Wer also der kurzsichtigen Ansicht sein mag, über die Welt des Mittelmeeres sei doch alles schon erzählt, der hat erstens keine Ahnung und zweitens entgeht ihm bzw. ihr ein wunderbarer literarischer Leckerbissen. Vertraut mir, Freunde, das hier ist ein süffiges Lesevergnügen, das ihr euch nicht entgehen lassen soll­tet… und ich gehe sogar soweit, zu vermuten, dass euch dieses dünne Bänd­chen auf ganz neue interessante Fragen bringen wird, deren Beantwortung durch weitergehende Lektüre dann den inneren Horizont gehörig weiten helfen wird.

Besuchen wir also drei Altmeister der französischen Historie und lauschen ihren klugen und geschmeidigen Worten:

Die Welt des Mittelmeeres

(OT: La Méditerranée. L’espace et l’histoire, les hommes et l’heritage)

Enthält Beiträge von

Fernand Braudel, Georges Duby & Maurice Aymard

Hg. von Fernand Braudel

Fischer 16853

192 Seiten

Frankfurt am Main, Januar 2006 (Taschenbuchausgabe)

Ursprünglich Frankfurt am Main 1987

Aus dem Französischen von Markus Jakob

Das Mittelmeer ist für die europäische Kultur und Geschichtswissenschaft das Ursprungsbecken schlechthin, von vielen „die Wiege der Kultur“ genannt. Der Blick schweift von den Säulen des Herakles, wie die Meerenge von Gibraltar in alter Zeit genannt wurde, bis hin zu den felsigen Gestaden der phönizischen Purpurschneckenküste bei Tyros und Sidon, er folgt abwärts der uralten Küste hinab zu dem Delta des Nil und reist dann die nordafrikanische Küste entlang bis zu den bröckelnden Resten des ruhmreichen Karthago. Wendet man sich wieder nordwärts, kommt die kaum minder geschichtsmächtige Küste Spaniens in Sicht, die, könnte sie denn Geschichten erzählen, aus dem Reden kaum her­auskäme, und fürwahr, jeder dritte Satz redete wohl in der Zusammenfassung von Eroberung und Besatzung.

Gleichermaßen sind die vielfältigen Eilande und größeren Inseln keine ge­schichtsleeren Räume, weder Korsika mit seiner vieltausendjährigen Ver­gangenheit noch Kreta, einst Hort eines machtvollen, immer noch rätselhaften Staates, der ein nicht minder geheimnisvolles wie vollständiges Ende fand – Li­near A ist bis heute nicht restlos entschlüsselt – ; und man denke auch an San­torin, jene zerborstene Insel und Ruine einstigen Glanzes, bedeckt mit den ver­schütteten Ruinen minoischer Städte, und man denke an Malta mit uralten Megalithbauten, von deren Erbauern außer den steinernen Zeugnissen nur we­nig geblieben ist.

Nordwärts entdecken wir weitere Kulturen: Griechenland etwa, die Wiege der abendländischen Kultur, deren Kenntnisse und Tradition das spätere römische Reich prägte, wie dann das römische Reich selbst dem gesamten Mittelmeer­raum seinerseits seinen Stempel aufdrückte und bis heute Spuren in Bevölke­rung, Geschichte, Geografie, Literatur, Schrift und Sprache hinterließ. Die Ge­genwart lässt sich ohne den langen Schatten dieser Vergangenheit nicht den­ken.

Dasselbe gilt natürlich auch für die Landschaft – wer hat sie nicht schon gese­hen, die karstigen Kalksteinplateaus des mediterranen Raumes, gleißend unter der heißen Mittelmeersonne, nach würzigen Kräutern riechend, nach brennen­dem Fels, durchwogt von gelegentlichen Herden der Schafe und Ziegen, kärglich bevölkert von Hirten einerseits und knorrigen Bauern andererseits, die vom ma­geren Ertrag der Handarbeit, dem steinigen Boden abgerungen, ihren Lebens­unterhalt fristen? Und sind nicht diese kargen Regionen (was man kaum weiß, weil man den Anblick als ganz natürlich versteht, was er aber nicht ist) die Spu­ren antiken Raubbaus? Einst standen hier mächtige Korkeichenwälder, die in der Frühzeit abgeholzt wurden, für große Kriegsflotten, für Belagerungsma­schinen, für Wasserleitungen, zum Verfeuern für eine immer größer werdende Bevölkerung.

Wem das vertraut klingt, der mag den Mittelmeerraum auch als Sühnezeichen für früheren Frevel der Menschheitsgeschichte lesen, als Mahnung an die heute Lebenden, derartige Fehler nicht noch einmal zu machen. Doch sieht es leider so aus, als sei die Menschheit der Gegenwart den Eintagsfliegen gar zu ähnlich – kurzsichtig auf ihren momentanen Vorteil bedacht, nicht nachdenkend, nicht weit denkend und das Vergangene gering schätzend, weil vermeintlich nicht mehr aktuell, ist sie drauf und dran, dieselben und noch schlimmere Fehler von neuem zu begehen, diesmal in verheerenderer Form…

Mitte der 80er Jahre begannen drei renommierte Historiker der französischen Annales-Schule, Fernand Braudel (1902-1986), Georges Duby (1919-1996) und Maurice Aymard (*1936), eine „geographische, geschichtliche und kulturelle Er­kundungsreise“ (Braudel) durch den Mittelmeerraum zu unternehmen. Das Er­gebnis liegt in Form dieses Bandes vor1, in dessen 8 Kapiteln die drei Autoren die Eigenheiten des Landes, des Meeres, der Lebensräume, der Geschichte wie der Geschichtsdämmerung sowie das Erbe herausarbeiten. Außerdem steuert Fernand Braudel ein weiteres Kapitel zu Venedig bei, das entgegen der ersten Annahme durchaus keine historische Schilderung der venezianischen Geschich­te ist, sondern eher… ja, sagen wir, eine Liebeserklärung an diese Stadt.

Überhaupt bestechen Braudels Abschnitte – sechs der acht Kapitel stammen von ihm – bei aller bewunderungswürdigen Tiefe und intensiven historischen Reflexion durch einen einfach unglaublich lässigen, entspannten wie eloquen­ten Schreibstil. Der Leser fühlt sich gleichsam mitgezogen, wie wenn man sei­nem erzählmächtigen alten Onkel lauscht, der so weitgereist ist und willig, sei­ne Kenntnisse an die Jüngeren mitzuteilen. Ah, und es ist ein reines Vergnügen, diese Texte zu inhalieren (lesen kann man das eigentlich nicht mehr nennen, es ist viel angenehmer).

Verglichen damit verlieren Aymards Abschnitt über die Lebensräume und Dubys Resümee über das Erbe des Mittelmeerraumes schon an Glanz, aber man kann nicht behaupten, dass sie trocken oder übertrieben gelehrt klängen. Nein, die Historiker der Annales-Schule haben hiermit schlagend demonstriert, was man ihnen ganz allgemein nachsagt: dass sie frischen Wind in vermeintlich alte The­men bringen können, durch unkonventionelle, ja fast literarische Betrachtungs­weisen, die ihre Texte lesbar werden lassen, wie man es üblicherweise von vie­len Angelsachsen sagt.

So schmal dieser Band mit seinen 192 Seiten darum auch sein mag, es ist ein li­terarisches Vergnügen erster Güte, und jedem, der sich für die vieltausendjähri­ge Geschichte des Mittelmeerraumes interessiert, wärmstens ans Herz gelegt. Wer weiß, der nächste Mittelmeerurlaub kommt ja unter Umständen schon bald? Man sollte dieses Buch dabei haben, um den Blick zu öffnen.

© 2011 by Uwe Lammers

Nun, überrascht? Neugierig geworden? Dann macht euch auf die Pirsch und sucht dieses Buch. Es lohnt die Lektüre wahrhaftig. Ich gehe soweit, zu behaupten, dass das oben kurz vorgestellte Werk auch durchaus etwas ist für Leute, die sonst mit der Historie wenig „am Hut“ haben. Es kommt immer nur darauf an, wie man mit der Geschichte vertraut gemacht wird, und hier findet eben nicht das sture Pauken von Geschichtszahlen statt, das man noch aus der Schule kennt… im Gegenteil, hier werden kundig und wortmächtig Strukturnet­ze von Zusammenhängen gewoben, alles mit allem verknüpft, dass man nur noch staunen kann.

Nächste Woche besuchen wir einen anderen weltbekannten Literaten, dessen Name ich hier ungeniert schon verrate: Roald Dahl. Er ist nicht nur Autor mei­nes Lieblings-Bondfilms „Man lebt nur zweimal“ gewesen und für gewisse gars­tig-humorige Kurzgeschichten bekannt, sondern es gibt da noch einen ganz na­türlichen Aspekt, um den wir uns in sieben Tagen an dieser Stelle kümmern werden.

Welcher das ist? Na, so voreilig bin ich dann doch nicht. Schaut einfach herein, dann seid ihr schlauer. Und ich muss es wohl kaum betonen – meiner Ansicht nach lohnt der Besuch hier immer.

Bis dann also, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Ich meine mich allerdings zu entsinnen, dass dies lediglich ein kleiner Auszug aus einem ursprünglich dreibändigen Buchwerk ist, dessen deutscher Gesamttitel mir jetzt leider nicht erinnerlich ist.

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