Rezensions-Blog 110: Holmes und die Spionin

Posted Mai 2nd, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute stelle ich ein Werk vor, das ein paar Eintrübungen auf der sonstigen Emp­fehlung aufweist, aber das muss nicht bedeuten, dass es weniger lesenswert ist. Ich bin, was Holmes-Geschichten angeht, eben recht kritisch, und dann kommt es schon mal zu ein wenig grantelnden Bemerkungen. Ihr könnt sie, wenn ihr möchtet, gern ignorieren.

Eine Tatsache muss ich noch zur unten stehenden Rezension ergänzen, die mir, als ich sie schrieb, so nicht klar war. Es handelt sich tatsächlich, wie vage ange­deutet, um ein Buch, das nach einem Film geschrieben worden, nämlich „The Private Life of Sherlock Holmes“, den ich erst später sah und dabei sofort an die­ses Buch entsann. Es ist mir zwar nicht wirklich transparent, ob das Buch zuerst da war oder der Film, nehme aber an, dass die Hardwicks nach dem Drehbuch gearbeitet haben. Das würde viele Dinge, die ich moniere, erklären. Es ist si­cherlich eine interessante Erfahrung für euch, wenn ihr euch beide Werke an­tut, Film wie Roman, um danach zu urteilen, was von beidem gelungener ist.

Und wenn es euch angenehmer ist, blendet den problematischen zeithistori­schen Kontext aus. Weite Strecken des Romans funktionieren auch ohne ihn recht ordentlich. Unterhaltsame Lektüre ist das Werk in jedem Fall, auch wenn es recht eigenwillig strukturiert ist, wie ihr merken werdet, wenn ihr jetzt mit der Lektüre fortfahrt:

Holmes und die Spionin

(OT unbekannt, evtl. „Prisoner of the Devil“)

Von Michael & Mollie Hardwick

Sherlock Holmes Criminal Bibliothek 3

Blitz-Verlag 2006

144 Seiten, TB

ISBN3-89840-213-4

(Übersetzer unbekannt, nicht genannt)

Was kann es eigentlich Schöneres geben, als bei einem Event, auf dem man von Aberhunderten von Verlagen, Zehntausenden von Büchern und Tausenden von Bücherbegeisterten umgeben ist, in einer Wanderpause damit zu beginnen, ein Buch zu lesen? So erging es mir auf der Leipziger Buchmesse am 15. März 2014, und das Buch meiner Wahl war jenes, über das ich heute berichte. Es mag schon ein paar Tage älter sein, aber wir wissen ja: Sherlock Holmes ist ziemlich zeitlos, und gesetzt den Fall, das Werk ist einigermaßen ansprechend geschrie­ben und der bzw. die Verfasser fähig und kundig, ist das Lesevergnügen pro­grammiert und gewiss. So ging es mir hiermit ebenfalls, und dass ich es buch­stäblich in einem Zug am nämlichen Tag durchlas, spricht definitiv für das Buch. Doch worum geht es im Detail?

Die Geschichte spielt zunächst in der Gegenwart, d. h. im Jahre 1970, als der Roman erstmals erschien. Ein Reisender aus Kanada erscheint in London bei Mr. Havelock-Smith in einer nicht näher genannten Bank, von der er ange­schrieben worden ist. Sein Großvater, Dr. John Watson, M.D., habe hier eine Metallkassette in Aufbewahrung gegeben. Der Besucher, selbst Arzt, heißt auch Watson und ist der Enkel des alten Kompagnons des legendären Sherlock Hol­mes, und seine Blechkassette enthält neben einigen interessanten Accessoires auch einen Bericht, den Havelock-Smith – seines Zeichens Vorstandsmitglied der Londoner Sherlock Holmes Society – und Dr. Watson dann zu studieren be­ginnen.

Genau genommen handelt es sich wohl eher um drei Berichte, die im Roman ineinander gemengt werden. Im zweiten Kapitel (das erste behandelt die Rah­mengeschichte) lernt der unbedarfte Leser Holmes und Watson in ihrer Zeit kennen. Im Kapitel 3, eigentlich eine kleine, in sich abgerundete Geschichte, geht es um eine russische Ballerina und das Geheimnis von Holmes´ Stradivari. Erst im vierten Kapitel „Die schöne Unbekannte aus der Themse“ geht die ei­gentliche Romanhandlung los. Ungeduldige Geister lassen die Verfasser also gut fünfzig Seiten lang zappeln. Sei es drum, mich kümmerte es wenig.

Angeblich am 17. April 1888 – so wird dieser Fallbeginn von Dr. Watson entge­gen den üblichen Verfahrensweisen im Doyle-Kanon terminiert1 – wird von ei­nem Kutscher eine fast bewusstlose Frau aus der Themse gezogen, die eine Mit­teilung in der Hand hält, auf der klar „Baker Street 221b“ zu erkennen ist. Er liefert sie also lieber dort ab als beim nächsten Krankenhaus. Dr. Watson stellt schnell fest, dass die Frau offensichtlich Opfer eines Überfalls geworden ist und wohl ermordet werden sollte. Sie leidet nach einem Schlag auf den Kopf offen­sichtlich an Gedächtnisschwund.

Schließlich kristallisiert sich aber heraus, dass es sich wohl um die Belgierin Ga­brielle Valladon handelt. Sie ist auf der Suche nach ihrem Mann Emile, einem Bergbauingenieur, der zuletzt im Kongo gearbeitet hat, nach England gekom­men. Er ist spurlos verschwunden. Hier in London habe er für eine Firma na­mens JONAS gearbeitet, doch diese Firma erweist sich letztlich als inexistent. Und kurz darauf wird Gabrielle überfallen und in die Themse gestürzt.

Holmes bekundet Interesse an dem Fall und hat bald ein paar sehr disparat er­scheinende Fakten vorliegen: ein verlassenes Geschäft, in dem offensichtlich Kanarienvögel umgeschlagen werden; sechs verschwundene Liliputaner, die laut Holmes Anarchisten sind; das Ungeheuer von Loch Ness, an das er nicht glaubt; eine Gruppe Trappistenmönche, die Holmes, Watson und Gabrielle Val­ladon über den Weg laufen, als sie auf dem Weg nach Schottland sind… und dann ist da auch noch das Verdikt von Mycroft Holmes, Sherlocks Bruder, der ihn drängt, diesen Fall aufzugeben.

Wie der Leser sich vorstellen kann, ist letzteres natürlich eher noch ein Ansporn für den Detektiv aus der Baker Street, und so kommt es nicht nur zu einem un­freiwilligen Bad im Loch Ness, sondern schließlich auch zu einer königlichen Au­dienz und dazu, dass, wie Watson sich ausdrückt, „diese Geschichte so unrühm­lich ist, dass sie besser niemals veröffentlicht werde“.

Interessant bleibt sie gleichwohl, und wer neugierig geworden ist, sollte sie nachlesen.

Es sollte dennoch nicht unerwähnt bleiben, dass es ein paar Schwierigkeiten mit dem vorliegenden Werk gibt. Ich möchte nicht darüber urteilen, ob es sinn­voll ist, ein Lektorat auf Mallorca (!) damit zu betrauen, eine deutsche Überset­zung zu checken. Manche Fehler sind dem Lektorat jedenfalls durchgeschlüpft (vielleicht aber auch dann wieder während des Drucks in Polen (!) eingebaut worden). Sicherlich waren Kostengründe für solche Formen des Outsourcings verantwortlich. Aber es hätten doch wenigstens die Grundsätze gescheiter Zitation des Werkes selbst gewahrt werden können: Bei Übersetzungen aus dem Englischen, wie es hier zweifellos der Fall ist, hätte man den Originaltitel angeben müssen, ebenfalls der Sorgfalt halber wie bei jeder Übersetzung auch den Übersetzernamen. Möglicherweise verbirgt er sich hier hinter dem Passus „Fachberatung“, und der Übersetzer heißt Klaus-Peter Walter. Aber das kann man als Rezensent allenfalls ahnen. Ein Verlag sollte das schon explizit schreiben.

Inhaltlich ist zu betonen, dass es bei den Liliputanern einen seltsamen Wider­spruch gibt zwischen Holmes´ Einstufung als Anarchisten und ihrer späteren Rolle im Roman. Das passt nicht wirklich zusammen. Auch die Person der Gabri­elle Valladon wirkt, so verführerisch sie sein mag, doch etwas unglaubwürdig, wenigstens aus der Rückschau betrachtet. Ebenfalls erweist sich die klare Ter­minierung der Geschichte als strikter Fehler.

Warum dies? Nun, weil es letztlich um Politik geht. Und darin spielen Queen Victoria und der deutsche Thronfolger Wilhelm II. eine zentrale Rolle. Dummer­weise besteigt Wilhelm II. erst am 15. Juni 1888 den deutschen Thron, und sei­ne Machtambitionen kristallisieren sich frühestens in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts heraus, bis sie schließlich 1914 den Ersten Weltkrieg initiieren. Das, was hier also über Wilhelms Pläne suggeriert wird, kommt viel zu früh. Da hätte sich das Autorenpaar deutlich besser informieren können und den Ro­manzeitpunkt, wenn er denn überhaupt unbedingt genannt werden musste, besser ins Jahr 1890 verlegt.

Und so hübsch das auch ist, was in diesem Roman mit Holmes und seiner rät­selhaften Beziehung zum „schönen Geschlecht“ ausgebreitet wird (Watsons Entsetzen ist süß, muss ich gestehen), so gekünstelt wirkt das leider auch. Die­selbe Angestrengtheit merkt man auch im Kapitel 2 „Eine rasende Dampfma­schine“, wo Holmes, Watson zuliebe, könnte man meinen, einfach alle Register seiner persönlichen Marotten zieht. Das hätte man deutlich liebevoller einflech­ten können, hier wirkt ein wenig der Holzhammer für jene Leute, die Holmes und seine Welt schon kennen. Aber gehen wir mal davon aus, dass er für die amerikanischen Leser schrieb, die Sherlock Holmes allenfalls aus den Verfilmun­gen kannten, und vielleicht hat er ja deshalb so überzogen. Wahrscheinlich ist die Geschichte auch deshalb so vergleichsweise leicht durchschaubar. Was sie in Schottland finden, kann kluge Leser wirklich nicht sehr lange überraschen.

Es bleibt aber dennoch, bei allen inhaltlichen Abstrichen, ein durchaus vergnüg­liches Abenteuer, das die Lektüre lohnt.

© 2014 by Uwe Lammers

Soviel also für heute zu dem jüngsten rezensierten Werk aus dem Kanon der Holmes-Epigonen. Da ich kürzlich erst wieder zwei Holmsiana erwarb, könnt ihr sicher sein, dass ihr von unserem berühmten Detektiv an dieser Stelle noch recht oft hören werdet.

In der kommenden Woche machen wir uns auf die Suche nach einem legen­dären Schatz – und ihr kennt mich inzwischen gut genug, dass ich solche Ge­schichten mit Begeisterung lese. Schatzsuche war schon als Kind für mich span­nend, und das hat seinen Reiz nicht eingebüßt. Und mal ehrlich – wer hat sich nicht immer schon gefragt, wohin die Schätze der Inka verschwunden sein könnten?

Nächste Woche bekommt ihr eine potentielle Aufklärung. Ich denke, das solltet ihr euch nicht entgehen lassen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Wie jeder Holmes-Kenner weiß, werden die Fälle dort nicht zeitlich einsortiert, sondern „Watson“ alias Doyle hält sich vage, um die genaue Zuordnung zu Personen der Zeitge­schichte und tagespolitischen Ereignissen zu verwischen. Viele Epigonen haben dieses Prinzip nicht begriffen, auch die Hardwicks nicht.

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