Liebe Freunde des OSM,
ein Buch, das einen so unspektakulären Titel trägt, ist recht eigentlich eines, an dem man üblicherweise achtlos vorbeieilt, auf der Suche nach packenderen und reißerischeren Titelnennungen, die aus den Bücherregalen entgegenrufen: „Kauf mich! Kauf mich!“ Nicht selten geht’s dort dann um Mord und Totschlag, Intrigen und Geheimnisse… nun, das meiste davon kann man im vorliegenden Buch ebenfalls finden, und deshalb lohnt es sich für euch, kurz innezuhalten und meinen Zeilen zu folgen.
Mag es auch sein, dass ich ein wenig überschwänglich begeistert klinge – ihr werdet schnell verstehen, warum das der Fall ist und weshalb dieses Buch durchaus packenden Romanen das Wasser zu reichen vermag. Wenigstens für jene unter euch, deren Leidenschaft ähnlich strukturiert ist wie die meine. Die auch frühzeitig mit dem „infiziert“ wurden, was ich das Pharaonenfieber nennen möchte.
Wie äußert sich das bei Philipp Vandenberg und mir? Nun, wer das herausfinden will, sollte jetzt einfach mal weiterlesen:
Das Tal
Auf den Spuren der Pharaonen
Von Philipp Vandenberg
Bertelsmann 1982
364 Seiten, geb.
Als ich dieses Buch vor wenigen Wochen gegen Anfang 2016 überraschend in einer Bücherzelle entdeckte, war ich mir nicht restlos sicher, ob ich es schon besaß oder nicht – von dem Verfasser Vandenberg besitze ich schon recht viele Bücher, zahlreiche ungelesene. War dies dabei? Einerlei – ich nahm es sicherheitshalber mit… und freute mich, denn es war noch nicht vorhanden. Und mehr noch: meine Leseneugierde auf das Buch war geweckt. Ich machte mich umgehend daran, es zu verschlingen und war in fünf Tagen durch.
Um zu verstehen, warum mir das so ging, muss ich ein wenig ausholen und eine Zeitreise über mehr als vierzig reale Jahre in meiner Biografie durchführen und euch dorthin mitnehmen – in das alte Hildesheim der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dort erhielt ich bei den mehrmaligen jährlichen Besuchen meiner Eltern bei meinem Großvater auf einem interessanten Umweg meine stete Dosis Altägypten. Das Roemer-Pelizaeus-Museum (damals noch nicht der Neubau von heute, sondern eine sehr viel geheimnisvollere, Nostalgie ausstrahlende Schöpfung, die ein klares Provisorium darstellte, was mir als Kind aber kaum auffiel) in der Hildesheimer Innenstadt besitzt seit jeher eine große ägyptische Dauerausstellung. Und ich war zu jener Zeit, nicht mal neun Lenze alt, unglaublich dem historischen Klassiker „Götter, Gräber und Gelehrte“ von Kurt Marek verfallen (unter seinem Autorenpseudonym C. W. Ceram verfasst und in zig Auflagen erschienen).
Für mich war Ägypten mental damals eine zweite Heimat. Hieroglyphen? Phantastisch. Mumien? Sarkophage? Steinerne Pylone und phantastische Bildwerke, sepiabraune Fotos von wüstenhaften Kulissen und zerbröckelnden Ruinen am Nil? Hinreißend!
Und all diese Namen, die ich auswendig wusste. Cheops, Chephren, Thutmosis, Tut-ench-amun, Hatschepsut, Nofretete, Echnaton… ganz zu schweigen von all den Göttern, von Amun, Re, Anubis, Bastet, Seth und wie sie nicht alle hießen. Ach ja, und die zahlreichen Orte… Gizeh, Luxor, Theben, Amarna, und, vielleicht am verheißungsvollsten, das rätselhafte Tal unter dem pyramidenförmigen Schatten eines mächtigen Bergmassivs – das Tal der Könige, über zahllose Jahrhunderte hinweg der Begräbnisort von Prinzen und Pharaonen, hohen Hofbeamten und Priestern.
Nun, und all diese Erinnerungen konnte ich mit der Lektüre des vorliegenden Buches wieder auflodern lassen – ja, ich möchte behaupten, ich schwelgte in so Altbekanntem und traf mich mit Freunden aus der Vorzeit, die ich namentlich alle kannte, an die die Erinnerungen freilich ein wenig… nun, angestaubt waren. Dichte Schleier von Staub, von neuem Wissen, von eigenen durchlebten Jahren hatten sich darüber gelegt, wie der Staub und Sand zahlloser Jahrtausende die Monumente und Grabstätten der Pharaonen im Niltal tiefer und immer tiefer begraben hatte. Aber ihr kennt das – wenn man einmal solche Dinge gern und begeistert durchlebt hat, dann fällt es leicht, sich wieder in diese Tiefen zu begeben und diese lieb gewonnenen Räume von neuem zu durchschreiten. So erging es mir bei der Lektüre des vorliegenden Buches.
Vandenberg beginnt seine Reise durch das Niltal – denn es ist, ein wenig irreführend, durchaus nicht nur vom Tal der Könige die Rede, sondern auch von sehr vielem anderen mehr, etwa dem Bau des Suezkanals, den pharaonischen Goldminen, dem rätselhaften Land Punt, der Modernisierung Ägyptens im 19. Jahrhundert, seinem mondänen Glanz, seinem Elend und seiner vergangenheitstrunkenen Korruption (letzteres ist leider sehr vertraut, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass überall in geschichtsträchtigen Ländern – etwa im Irak oder Syrien aktuell – beim Zerfall staatlicher Strukturen gern vorrangig die Vergangenheit geplündert und verscherbelt wird) – , also, Vandenberg, wollte ich sagen, beginnt seine Reise durch das Niltal im Jahre 1852.
1852 ist der junge, wagemutige Franzose Auguste Mariette in Ägypten dabei, der rätselhaften Vergangenheit der Pharaonenzeit auf den Grund zu gehen – mit Sprengstoff, viel Elan und anfangs recht wenig Sachkenntnis. Er hat Erfolg mit seiner Methode, unbestreitbar. Und er findet den Serapis-Tempel, ein gewaltiges unterirdisches Bauwerk eines alten Stierkultes.
Ein Jahr darauf stößt der Preuße Heinrich Brugsch zu ihm, ein sehr intelligenter, aber äußerst zurückhaltender Mann, der die Fähigkeit besitzt, die Mariette abgeht – er kann die alten Inschriften entziffern. Und so werden die beiden vom Naturell so unterschiedlichen Männer recht bald Freunde. Brugsch, ein bettelarmer Mann, ist vom Tal der Könige fasziniert, und während er Skizzen von Inschriften und Gräbern anfertigt, wohnt er selbst in einem aufgelassenen Pharaonengrab.
Und sein Schicksal verwebt sich im Laufe der kommenden Jahre immer dichter mit strahlenden neuen Figuren des historischen Pantheons – Mariette ist nur der erste einer Reihe wichtiger Protagonisten, die hier in stetem Strom ans Ufer des Nils gespült werden. Wir lernen als Leser auch Ferdinand de Lesseps kennen, der den uralten Traum eines Kanals zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer verfolgt und im Jahre 1869 auch realisieren kann. Wir lernen den hochmütigen Richard Lepsius aus Preußen kennen, einen Mann namens Georg Ebers, nach dem ein berühmter medizinischer Papyrus benannt wird, der „Codex Ebers“. Reiche Kupfermagnaten wie Theodore Davis finden sich ein, abenteuerlustige Damen der britischen Gesellschaft, skurrile Archäologengestalten, etwa Flinders Petrie oder Howard Carter…
Auf der anderen Seite stehen vergnügungs- und verschwendungssüchtige ägyptische Herrscher, ruchlose Betrüger, Räuber und Halsabschneider, und immer wieder steht idealistische Vision gegen kruden Mammon und kurzfristigen Gewinn. Die Brüder Brugsch müssen sogar ein Geheimnis der Vergangenheit entschlüsseln, um zu vereiteln, dass die Altertumswissenschaft Ägyptens ganz und gar untergeht…
Doch, es ist ein lebendiger, farbenprächtiger Baldachin, den Philipp Vandenberg hier zusammenwebt, aus zahllosen überlieferten Anekdoten, zweifellos vielen Übertreibungen und vermutlich einer Menge historischer Ungenauigkeiten. Gleichwohl – mit dem sicheren Gespür für elegante, flüssige Prosa, packende Details und die gut dosierte Zugabe von Amüsement und Überraschung gelingt es dem Verfasser auf schöne und sehr unterhaltsame Weise, eine Geschichte zu erzählen, die sich über einen Handlungsbogen von fast siebzig Jahren erstreckt und an jenem legendären Punkt endet, wo Howard Carter sich dazu entschließt, das Grab des „vergessenen Pharaos“ Tut-ench-amun zu suchen.
Das ist nicht Teil dieses Buches, das halb Roman ist, halb Sachbuch. Aber diese Vorgeschichte ist darum nicht minder spannend und unterhaltsam. Ich für meinen Teil habe auch diese Rezension dazu gern geschrieben, und wenn ihr’s mir glauben wollt – ich habe schon aus meinem Bücherregal den nächsten Band von Vandenberg hervorgekramt, morgen geht es an die Lektüre. „Auf den Spuren der Vergangenheit“ heißt er… und es würd’ mich nicht einen Moment lang wundern, wenn das nicht auch eine Rezension wert wäre…
© by Uwe Lammers, 2016
Genug geschwärmt, meint ihr? Ach, ich lächle vergnügt und schüttele da sanft den Kopf. Deshalb seid ihr doch hier – um herauszufinden, für was für eine Art von Literatur mein Herz schlägt, wo meine kreativen Wurzeln sich befinden. Eine sehr tief reichende ist exakt hier zu verorten, im Reich der alten Pharaonen und in jener Entdeckergeschichte, die sie wieder ans Tageslicht brachte.
Vandenberg kann man attestieren, dass er es versteht, die Vergangenheit elegant und eloquent wieder zum Leben zu erwecken. Ihr werdet in den kommenden Monaten zweifellos noch so manches seiner Werke hier vorfinden, das ist unumgänglich.
In der kommenden Woche bleiben wir im historischen Genre, springen aber in die frühen Tage des 20. Jahrhunderts hinauf – und schauen uns ein Sachbuch an, das in den 60er Jahren den begehrten Pulitzer-Preis gewonnen hat.
Wenn ihr neugierig geworden seid, schaut kommende Woche wieder herein. Ich freue mich darauf.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.