Liebe Freunde des OSM,
heute gibt es mal wieder eine Rezension mit starker Eintrübung… denn damals, als ich den Roman vor fünfzehn Jahren erneut las, um ihn dann zu rezensieren, war ich doch deutlich ernüchterter als bei meiner „naiven“ Erst- und Zweitlektüre. Dennoch füge ich diese Rezension mit Bedacht in den Blog ein… das hat den klaren Grund, dass der fünfbändige Gesamtzyklus (eigentlich eine sehr unschön zerstückelte Trilogie, wenn man genau ist, die heutzutage dringend eine schöne, ungekürzte Neuausgabe verdient hätte!) in toto sehr anregend und faszinierend ist.
Der zweite Band, der hiermit vorliegt (bzw. Band 2, Teil 1 der Trilogie), hängt zwar ein wenig durch, doch ist das ein Phänomen, das man auch von Filmtrilogien zur Genüge kennt (man denke nur mal an „Matrix“ oder auch an „Fluch der Karibik 2“, wobei letzterer Film seinen eigenen Charme entwickelte). Grundsätzlich ist das wohl unvermeidlich. Und die Einführung von neuen Charakteren, um die Romanhandlung zu beleben, hat definitiv etwas.
Also, auf ein Neues: es geht um das Schicksal des Universums, um das Geheimnis der mysteriösen Markovier, und das Tableau für den „Krieg der Sechseck-Welt“ wird bereitet.
Vorhang auf, das Spiel möge beginnen:
Exil Sechseck-Welt
(OT: Exiles at the Well of Souls)
von Jack L. Chalker
Goldmann 23346
288 Seiten, TB
März 1980
Übersetzt von Tony Westermayr
Man befindet sich im 45. Jahrhundert. Die vielen hundert menschlichen Kolonialwelten sind bis auf wenige in so genannte „Kom-Staaten“ umgewandelt worden, „Paradiese“, auf denen die Menschen selten mehr sind als uniformierte, gehorsame Ameisenwesen. Nur sehr wenige Welten konnten sich dem Druck des Konformismus widersetzen, ganz kleine Grüppchen von Menschen, die noch stolz auf ihre Individualität und durchaus auch auf ihre Gebrechen sind, existieren in Nischen der Gesellschaft.
Doch es gibt einen größenwahnsinnigen Menschen, der extra für die Aufgabe der absoluten Herrschaft gezüchtet wurde: der Hermaphrodit Antor Trelig, optisch durchaus maskulin, von der Vorliebe her aber zu Männern neigend, die seine weiblichen Geschlechtsorgane besser „bedienen“ können. Trelig hat sich zum Herrscher des Schwamm-Rauschgiftsyndikats aufgeschwungen (siehe Rezension „Die Sechseck-Welt“) und kontrolliert inzwischen weite Teile der planetaren Regierungen. Er ist nahe daran, die ultimaten Vernichtungswaffen in seine Hand zu bekommen, die lange Zeit weggesperrt und dem Kom-Rat unterstellt wurden.
Doch durch einen bösen Zufall erfährt er von einer Erfindung, die ihn in den Besitz noch viel gewaltigerer Machtmittel bringen kann:
Der naive Wissenschaftler Gilgam Zindar hat sich mit den geheimnisvollen markovischen Gleichungen beschäftigt und einen Supercomputer namens Obie entwickelt. Obie ist imstande, nach präzisen Vorgaben Menschen in ihre primärenergetischen Speicherbestandteile aufzulösen und neukonfiguriert wieder zusammenzufügen. Auf diese Weise verwandelt er beispielsweise Menschen in Zentauren.
Zindars Assistent Ben Yulin ist, was niemand weiß, ein Angestellter des herrschsüchtigen Antor Trelig, und es gelingt ihm, Zindars eher dümmliche Tochter Nikki zu entführen und schwammsüchtig zu machen. Der Wissenschaftler wird so gezwungen, eine größere Ausgabe des Materietransmitters zu bauen und Obies Kontrolle zu unterstellen. Die Anlage wird in Treligs Asteroid „Neu-Pompeji“ eingebaut und zur Abschreckung der noch unabhängigen Räte getestet.
Vor diesem Test allerdings ist die kleinwüchsige Raumpilotin Mavra Chang (manchmal auch inkonsequent Tschang geschrieben) auf Neu-Pompeji eingetroffen. Ihr Auftrag lautet, Nikki Zindar zu befreien, um Gilgam Zindar nicht mehr erpressbar zu machen. Selbst der Supercomputer Obie hilft ihr, aber all das reicht nicht: das Experiment wird vorverlegt und Mavra befindet sich mit ihrer befreiten Geisel und dem Aufseher Renard noch zu nah an Neu-Pompeji, als der von Obie vorausberechnete Nebeneffekt eintritt.
Der gesamte Asteroid wird von dem Feld der Veränderung eingehüllt und ins Zentrum des bekannten Universums versetzt, angezogen von jener Instanz, die die Materiegleichungen des Kosmos stabil hält.
Sie finden sich wieder im Orbit eines bizarren riesenhaften Planeten, der gespenstisch facettiert wirkt und ein Band aus Bernstein um den Äquator zu besitzen scheint: es handelt sich um die Sechseck-Welt, auch Schachtwelt genannt, jenen Planeten, auf dem die gottgleichen Markovier vor Hunderttausenden von Jahren die Evolution von Millionen Rassen abrollen ließen, mit denen sie später den Kosmos bevölkerten. In den 1560 Hexagon-Habitaten existieren ebenso viele Völker, mehr oder weniger intelligent oder technifiziert (manche auch mit Magie ausgestattet!).
Dies verstehen natürlich die Neuankömmlinge nicht.
Mavras Fähre stürzt auf der Sechseck-Welt in einem Habitat fleischfressender Zyklopen ab, während Treligs schwammsüchtige Angestellte revoltieren und ihn fast umbringen. Er hat nur die Chance, mit Zindar und Ben Yulig ebenfalls die Schachtwelt anzufliegen. Doch sie stranden mit ihrem Raumschiff – im Gegensatz zu Mavra – im Norden, in jener Weltsphäre, wo die nicht auf Kohlenstoff basierenden Lebewesen ihre Staaten errichtet haben und sie selbst fast den Tod finden.
Fast: denn im letzten Moment werden sie gerettet und in die Südhemisphäre versetzt und hier von einem monströsen Wesen namens Serge Ortega, das einmal ein Mensch war und nun ein – innerhalb der Zone durch Magie unsterblich gewordenes – riesenhaftes Schlangen-Reptilien-Mischwesen (ein Ulik eben) ist, empfangen.
Als er die Neuankömmlinge durch das Portal in die Welt hinausschickt, ahnt er nicht, WEN er weitersendet, das erfährt er erst später. Doch da ist es bereits zu spät.
In Windeseile verbreitet sich über der Sechseck-Welt die Information, dass zwei RAUMSCHIFFE abgestürzt sind – und dass über dem Planeten ein Asteroid mit einem markovierähnlichen Gehirn wartet, das gottähnliche Fähigkeiten, Unsterblichkeit und ähnliches verspricht!
Insbesondere Antor Trelig ist daran gelegen, nach Neu-Pompeji zurückzukehren und die absolute Macht zurückzuerringen, die er durch missliche Umstände verloren hat. Doch dafür braucht er ein Raumschiff. Das im Norden ist unzugänglich, das im Süden gestrandete in neun funktionsfähige Teile zerplatzt. Doch der Antrieb ist im Hexagon Gedemondas gelandet, über das man nahezu nichts weiß. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, diese neun Teile in ihre Gewalt zu bekommen: sie müssen eine Allianz schmieden und einen Eroberungszug starten.
Doch es muss schnell gehen! Denn noch andere Völker haben Ben Yulin in ihre Hand bekommen, den zweiten Mann, der neben Antor Trelig ein Raumschiff fliegen kann. Ein Wettlauf von fremdartigsten Armeen durch Hexagone und unwegsame Gebiete beginnt, wie man ihn sich gespenstischer und abenteuerlicher kaum vorstellen kann.
Allerdings weiß niemand, dass es noch eine dritte Partei gibt, die mitmischen möchte. Und ihr Trumpf ist der vielleicht kostbarste von allen: Mavra Chang, die einzige Raumpilotin auf der Sechseckwelt…
Der Roman spielt gut 200 Jahre nach den Ereignissen in „Die Sechseck-Welt“ und baut, direkt daran anschließend (eigentlich sind diese Bände zusammen mit dem dritten Band ein einzelner Roman, der aus Platzgründen gesplittet wurde), die hierin gesponnenen gesellschaftlichen Grundlagen der menschlichen Galaxis weiter aus. Bis die Protagonisten die Sechseckwelt erreichen (Seite 91), ist das auch alles recht schön und gut und detailgenau ausgebaut. Ich möchte behaupten: bis hierhin macht das Lesen Spaß.
Danach setzt eine Trübung ein, die bis zum Ende des Buches immer ärgerlicher wird. Grund dieser Trübung ist eine Häufung und Verdichtung von Namen, Rassen, Details und Gesellschaftsordnungen, die auch bei langsamem Lesen zu Verwirrung führen und sich bis hin zu kompletter Konfusion steigern kann. Da hilft selbst der Index der Völker und deren kurze Charakterisierung am Schluss des Buches nur geringfügig weiter.
Was ich als Leser vehement vermisst habe, sind die recht ruhigen, eindringlichen Schilderungen des Alltags, die beispielsweise in dem ersten Band die Geschichte etwas auflockerten und weniger zielgenau auf das Ende des Romans hinführten.
In diesem Roman wird die Sechseckwelt schon als bekannter Background vorweggenommen, das einzig „Neue“ sind die Völkerallianzen, die aber rasch in bloßen Aneinanderreihungen von anatomischen Details, sexuellen Vorlieben und taktischen Vor- und Nachteilen versumpfen. Nennenswerte Protagonisten mit einiger Charaktertiefe sucht man – jenseits der eingangs beschriebenen Personen – vergebens.
Das ist traurig. Der Roman hat eine Menge Potential auch in der Phase, in der die Kriegszüge nach Gedemondas geführt werden. Aber Chalker – oder der Übersetzer bzw. der Verlag mit eventueller Kürzung des Textes – verschenken diese Potentiale, indem sie die Handlung so sehr straffen, dass alles, was der Geschichte Farbe verleihen könnte, krass ausgeblendet wird. Die Fixierung auf den Erwerb des Antriebs macht einen guten Teil des Romans ziemlich ungenießbar, wenn man anspruchsvoll ist.
Man fragt sich bedauernd, warum es sich Goldmann in dieser Zeit auf die Fahnen schrieb, Romane strikt umfangtechnisch zu normieren. So ist dieser gewiss weit umfangreichere Roman außerordentlich verstümmelt worden und hat eine Menge seines Charmes verloren.
Dennoch enthält er nicht, nur rein nostalgisch betrachtet, eine Reihe interessanter, faszinierender Ideen, eine Fülle von Völkern, die intensiver ausgearbeitet werden könnten und deren Interaktionen spannend sind. Außerdem – wenn man nicht gar so anspruchsvoll ist wie ich – kann man sich mit dem Roman äußerst kurzweilig unterhalten. Und das ist ja nicht das Schlechteste, was man von einem Buch sagen kann.
© by Uwe Lammers, 2001
…und wie ich schon erwähnte, ist dies der erste Teil des zweiten Trilogie-Bandes. Wenn ihr also erfahren wollt, wie das Abenteuer weitergeht, empfehle ich euch die Lektüre des Blogartikels 94, auf den ihr noch ein bisschen zu warten habt.
In der kommenden Woche kehren wir zu einem meiner Lieblingsautoren zurück, nämlich Clive Cussler. Diesmal geht es ihm um eine besonders perfide Waffe, die spurlos von der Oberfläche der Welt verschwunden ist… und dann passieren ausnehmend unheimliche Ding.
Welche? Nun, das solltet ihr euch in einer Woche hier mal genauer anschauen. Es wird jedenfalls spannend, soviel kann ich versprechen!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.