Liebe Freunde des OSM,
ihr wisst ja schon seit dem Start meines Rezensions-Blogs im vergangenen Jahr, dass ich eifriger Fan von Zeitreisegeschichten bin. Das habe ich nicht zuletzt schon durch einige Blogartikel unter Beweis gestellt (etwa, als ich „Die Gehäuse der Zeit“ im Blogartikel 2 besprach, oder im Fall von „Zeitlabyrinth“ im Blogartikel 50 bzw. bei „Die Rückkehr der Zeitmaschine“ im Blogartikel 53). Ich kann versprechen, dass es davon noch einiges mehr geben wird, denn Zeitreisegeschichten sind nahezu so uferlos vorhanden wie Sherlock Holmes-Epigonenabenteuer… ach, vermutlich noch weitaus zahlreicher.
Zeitreisegeschichten sind auch nichts, was erst ein Phänomen der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts darstellt, die gibt es schon sehr viel länger. Eine frühe, inspirierende Blüte fand diese Art des phantastischen Abenteuers in den 20er und 30er Jahren in den USA, als dort die grelle, wilde Blüte der Pulp-Magazine hochschoss und sich weltweit über die amerikanischen Soldaten, die auf zahlreichen Kontinenten der Erde stationiert waren, ausbreitete.
Jack Williamson ist einer der jungen Autoren, die damals diese Zeit durchlebten, und das schimmert in diesem Roman, den ich euch heute vorstellen möchte, definitiv deutlich durch. Es handelt sich um einen Klassiker der Science Fiction, den ich zwar mit einigen kritischen Bemerkungen durchleuchte, der deshalb aber nur bedingt an Unterhaltungswert verlieren dürfte. Ihr wisst, dass ich speziell im Falle von Zeitreisegeschichten ziemlich genau hinschaue. Die meisten Leser tun das nicht. Und deshalb, glaube ich wenigstens, werdet ihr sehr unterhaltsame Lesestunden haben, wenn ihr euch auf das folgende Abenteuer einlasst:
Die Zeitlegion
(OT: Legion of Time)
Von Jack Williamson
Bastei Abenteuer 23006
Bergisch-Gladbach, 1982
Aus dem Amerikanischen von Peter Glaus
160 Seiten, TB
ISBN 3-404-23006-X
(nur noch antiquarisch erhältlich)
Die Zeit ist ein Strom von Möglichkeiten, gleich einem Korridor, von dem dunkel die virtuellen Seitengänge abzweigen und mal mehr, mal weniger Realität gewinnen, je nachdem, wohin der Träger des Lichts des Moments sich wendet. Andere Realitäten versinken dann im Schatten des Unmöglichen. Doch niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, wer dieses Licht des Augenblicks zu tragen auserwählt ist, auch nicht der Auserwählte selbst.
Dieser Mann ist der achtzehnjährige Dennis Lanning, der im April des Jahres 1927 das Studentenapartment in Harvard mit drei weiteren Gefährten teilt: mit dem riesigen Footballspieler Barry Halloran, mit dem er gemeinsam Flugstunden nimmt, dem Chinesen Lao Meng Shan und dem vergeistigten, schon etwas älteren Mathematiker Wilmot McLan. Denny hat keine Ahnung, dass die Zukunft der Welt von ihm abhängt, und das bleibt auch noch lange Zeit so. Doch an diesem Abend im April 1927 bekommt er überraschend geisterhaften Besuch von einer wunderschönen Frau aus der fernen Zukunft – man muss sich das wohl wie ein gängiges Hologramm vorstellen, denn ähnlich substanzlos ist es.
Diese Frau mit Mahagonihaar und violetten Augen nennt sich Lethonee, und sie stammt aus einer fernen Zukunft der Welt, aus einem wunderbaren Reich, das Jonbar genannt wird… vielleicht. Denn da gibt es auch noch einen dunklen Gegenpol, regiert von der dämonisch-schönen, aufreizenden Sorainya, die „böse Blume von Gyronchi“, wie Lethonee sie nennt. Sie beide sind Todfeindinnen, denn es kann nur eine von ihnen wirkliche Realität erlangen… und Denny obliegt es angeblich, dies zu entscheiden. Und die erste Prüfung, die Lethonee ihm auferlegt, ist es – rätselhaft genug – am kommenden Tag keinen Flugunterricht zu nehmen.
Lanning gehorcht – und erhält am kommenden Tag die Nachricht davon, dass das Flugzeug abgestürzt und sein Freund Barry tot ist. Hat Lethonees Nachricht also Lanning das Leben gerettet oder vielmehr Barrys Tod verursacht? Er ist sich unsicher… und diese Unsicherheit währt lange.
Als er sich schließlich zu einem Berichterstatter-Auslandsaufenthalt nach Nicaragua einschifft, erscheint ihm während der Überfahrt die sinistre, aber bildhübsche Sorainya auf einem schwebenden, goldenen Schild, und sie bietet ihm einen Platz an ihrer Seite auf dem Diamantthron von Gyronchi an. Er schlägt diese Chance aus, wenn auch schweren Herzens.
Und in den folgenden Jahren, in denen er als Kriegsberichterstatter durch die unruhige, chaotische Welt driftet, mischen sich von Zeit zu Zeit die überzeitlichen Wesen wieder in sein Leben, ohne dass Klarheit zu regieren beginnt… und dann erhält Denny Lanning von seinem alten Freund Wil McLan ein Buch zugeeignet, in dem dieser über das Wesen der Zeit im Antlitz der Gegenwart von Quantenphysik und Relativitätstheorie sinniert – und sehr ähnliche Gedanken entwickelt, die Lanning selbst hegt. McLan ist offensichtlich der einzige Mensch, der diese seltsamen Dinge zu durchschauen vermag. Aber er scheint spurlos verschwunden zu sein.
Ehe Lanning diesem Rätsel nachgehen kann, ruft ihn sein alter Freund Lao Meng Shan auf den chinesischen Kriegsschauplatz, denn inzwischen sind zehn Jahre seit dem Aprilabend in Harvard vergangen… und in einem Luftgefecht über der Küste Chinas wendet sich Denny Lannings Schicksal zum Schlechten, als er mit seinem Freund abgeschossen wird.
Und doch – danach geht das Abenteuer erst richtig los, denn ein geheimnisvolles fliegendes „Schiff der Toten“ rettet sie beide. Es handelt sich um die „Chronion“, ein geniales Schiff, das durch die Zeit reist. Und Dennis Lanning ist ausersehen, der Commander der Zeitlegion zu werden – um die Macht Gyronchis zu bekämpfen und das glänzende Jonbar und Lethonee Wirklichkeit werden zu lassen. Doch mit Entsetzen müssen die Kämpfer der Legion erkennen, dass Jonbar verlischt und alle Zukunftslinien auf das trostlose, tyrannische Gyronchi zulaufen.
Dennoch nehmen sie den Kampf auf, heldenhaft und verzweifelt…
Der Roman von Jack Williamson ist erstmals im Jahr 1952 erschienen, vor mehr als 60 Jahren, und man merkt selbst dieser vollständigen, ungekürzten Version sehr deutlich an, dass sie ein Kind der Pulp-Ära ist, dass Williamson mit den Abenteuergeschichten eines Robert Howard und E. E. Smith aufgewachsen ist, denn ganz derselbe Geist spricht auch aus diesen Seiten. Ich habe ihn damals nach dem Erscheinen gelesen, aber den Inhalt wieder vollkommen vergessen, so dass es eine interessante Neuentdeckung war, dieses antiquarisch 1997 gekaufte Buch aus der weitläufigen Reihe ungelesener Werke zu ziehen und innerhalb von drei angenehm unterhaltenen Tagen zu verschlingen.
Das Buch bietet kurzweilige Unterhaltung, etwas heroische, kantige Personencharakterisierungen in einprägsamer Schlichtheit, und wenn man nicht sehr viel mehr über den Charakter der Zeit und über Paradoxien weiß, die damit einhergehen, wenn man anfängt, mit der Zeit zu manipulieren, dann kann man dieses Garn vielleicht sogar ernstlich genießen. Ich nehme an, das amerikanische Publikum hat damit deutlich weniger Schwierigkeiten als ich etwa. Bei Zeitreisegeschichten komme ich nämlich stets ins Grübeln und versuche zu durchschauen, ob das, was geschrieben steht, so denkbar und realistisch ist, und hier muss ich leider sagen – Fehlanzeige auf ganzer Linie.
Warum?
Ohne zu viel verraten zu wollen: es geht ja darum, Jonbar oder Gyronchi ungeschehen zu machen. Zunächst schwindet Jonbar dahin, und damit fangen die Probleme an… denn wenn Jonbar nicht mehr da ist, wie wäre es dann wohl möglich, dass Denny Lanning ganz zu Beginn von Lethonee gewarnt wird, die es ja gar nicht gegeben hat? Ist nicht möglich. Mithin wäre er dort ins Flugzeug gestiegen und gestorben, und der ganze Roman wäre Makulatur. Das kann Williamson natürlich nicht machen, also biegt er seine Wahrscheinlichkeiten so zurecht, dass sie Sinn zu ergeben scheinen. Der kritische Verstand vermag ihm aber nicht mehr zu glauben.
Und wie ist es dann mit Gyronchi in der zweiten Hälfte des Romans? Wenn diese Welt samt ihrer finsteren Königin nur eine vage Hypothese bliebe bzw. ganz verschwände, wie sollte dann wohl jene schreckliche Versuchung überhaupt möglich werden, die das ganze Verhängnis letzten Endes auslöst? Sie ist nicht möglich. Und so weiter und so fort… da wird auf martialische, abenteuerliche Weise versucht, ein nahezu ungetrübtes Happy End zu konstruieren, und wenn man den Verstand abschaltet und die logischen Ungereimtheiten einfach unter den Teppich kehrt, klappt das auch. Aber jenseits davon, und wenn man drüber nachdenkt… da muss man Williamson attestieren, dass er vielleicht einen Klassiker der Science Fiction geschrieben hat, aber sehr gut durchdacht ist er meines Erachtens nicht. Na ja, und schweigen wir mal von den vielen Schreibfehlern, die das Lektorat hier einstreut, um den Leser zu irritieren (ich sage nur: „Rendesvouz“!). Das tut dann richtig weh. Also lieber schnell weiterlesen…
Nichts für kritische, logisch denkende Geister, würde ich sagen, sondern eher für schlichte Gemüter, die temperamentvolle Action wünschen, dabei den Verstand aber an der Kinokasse abgeben… oder so ähnlich.
© by Uwe Lammers 2013
Und nein, wie einleitend gesagt, ich denke, der Roman ist aufgrund seiner logischen Inhaltsfehler keineswegs ein Fall für den Müllhaufen der Geschichte, dafür strahlt er einfach von seinem Thema und der schwungvollen Prosa, der lebendigen Charaktere zu viel Reiz aus.
In der kommenden Woche nehme ich euch auch auf eine Zeitreise mit, die freilich von völlig anderer Art ist. Wir besuchen dann das 14. Jahrhundert und einen Mann, den man den Sire de Coucy nennt. Wem das jetzt schon etwas sagen sollte: Psst! Verderbt mir die Überraschung nicht… und auch nicht den spektakulären Auftritt einer meiner Lieblings-Sachbuchautorinnen, von der ihr hier in meinem Blog noch mehr erfahren werdet.
Also, nicht vergessen – nächsten Mittwoch wieder zuschalten, es lohnt sich!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.