Rezensions-Blog 75: Die Zeitlegion

Posted August 30th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ihr wisst ja schon seit dem Start meines Rezensions-Blogs im vergangenen Jahr, dass ich eifriger Fan von Zeitreisegeschichten bin. Das habe ich nicht zuletzt schon durch einige Blogartikel unter Beweis gestellt (etwa, als ich „Die Gehäuse der Zeit“ im Blogartikel 2 besprach, oder im Fall von „Zeitlabyrinth“ im Blogarti­kel 50 bzw. bei „Die Rückkehr der Zeitmaschine“ im Blogartikel 53). Ich kann versprechen, dass es davon noch einiges mehr geben wird, denn Zeitreisege­schichten sind nahezu so uferlos vorhanden wie Sherlock Holmes-Epigonen­abenteuer… ach, vermutlich noch weitaus zahlreicher.

Zeitreisegeschichten sind auch nichts, was erst ein Phänomen der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts darstellt, die gibt es schon sehr viel länger. Eine frühe, in­spirierende Blüte fand diese Art des phantastischen Abenteuers in den 20er und 30er Jahren in den USA, als dort die grelle, wilde Blüte der Pulp-Magazine hochschoss und sich weltweit über die amerikanischen Soldaten, die auf zahl­reichen Kontinenten der Erde stationiert waren, ausbreitete.

Jack Williamson ist einer der jungen Autoren, die damals diese Zeit durchleb­ten, und das schimmert in diesem Roman, den ich euch heute vorstellen möch­te, definitiv deutlich durch. Es handelt sich um einen Klassiker der Science Ficti­on, den ich zwar mit einigen kritischen Bemerkungen durchleuchte, der deshalb aber nur bedingt an Unterhaltungswert verlieren dürfte. Ihr wisst, dass ich spe­ziell im Falle von Zeitreisegeschichten ziemlich genau hinschaue. Die meisten Leser tun das nicht. Und deshalb, glaube ich wenigstens, werdet ihr sehr unter­haltsame Lesestunden haben, wenn ihr euch auf das folgende Abenteuer ein­lasst:

Die Zeitlegion

(OT: Legion of Time)

Von Jack Williamson

Bastei Abenteuer 23006

Bergisch-Gladbach, 1982

Aus dem Amerikanischen von Peter Glaus

160 Seiten, TB

ISBN 3-404-23006-X

(nur noch antiquarisch erhältlich)

Die Zeit ist ein Strom von Möglichkeiten, gleich einem Korridor, von dem dunkel die virtuellen Seitengänge abzweigen und mal mehr, mal weniger Realität ge­winnen, je nachdem, wohin der Träger des Lichts des Moments sich wendet. Andere Realitäten versinken dann im Schatten des Unmöglichen. Doch niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, wer dieses Licht des Augenblicks zu tragen auser­wählt ist, auch nicht der Auserwählte selbst.

Dieser Mann ist der achtzehnjährige Dennis Lanning, der im April des Jahres 1927 das Studentenapartment in Harvard mit drei weiteren Gefährten teilt: mit dem riesigen Footballspieler Barry Halloran, mit dem er gemeinsam Flugstun­den nimmt, dem Chinesen Lao Meng Shan und dem vergeistigten, schon etwas älteren Mathematiker Wilmot McLan. Denny hat keine Ahnung, dass die Zu­kunft der Welt von ihm abhängt, und das bleibt auch noch lange Zeit so. Doch an diesem Abend im April 1927 bekommt er überraschend geisterhaften Be­such von einer wunderschönen Frau aus der fernen Zukunft – man muss sich das wohl wie ein gängiges Hologramm vorstellen, denn ähnlich substanzlos ist es.

Diese Frau mit Mahagonihaar und violetten Augen nennt sich Lethonee, und sie stammt aus einer fernen Zukunft der Welt, aus einem wunderbaren Reich, das Jonbar genannt wird… vielleicht. Denn da gibt es auch noch einen dunklen Ge­genpol, regiert von der dämonisch-schönen, aufreizenden Sorainya, die „böse Blume von Gyronchi“, wie Lethonee sie nennt. Sie beide sind Todfeindinnen, denn es kann nur eine von ihnen wirkliche Realität erlangen… und Denny ob­liegt es angeblich, dies zu entscheiden. Und die erste Prüfung, die Lethonee ihm auferlegt, ist es – rätselhaft genug – am kommenden Tag keinen Flugunterricht zu nehmen.

Lanning gehorcht – und erhält am kommenden Tag die Nachricht davon, dass das Flugzeug abgestürzt und sein Freund Barry tot ist. Hat Lethonees Nachricht also Lanning das Leben gerettet oder vielmehr Barrys Tod verursacht? Er ist sich unsicher… und diese Unsicherheit währt lange.

Als er sich schließlich zu einem Berichterstatter-Auslandsaufenthalt nach Nica­ragua einschifft, erscheint ihm während der Überfahrt die sinistre, aber bild­hübsche Sorainya auf einem schwebenden, goldenen Schild, und sie bietet ihm einen Platz an ihrer Seite auf dem Diamantthron von Gyronchi an. Er schlägt diese Chance aus, wenn auch schweren Herzens.

Und in den folgenden Jahren, in denen er als Kriegsberichterstatter durch die unruhige, chaotische Welt driftet, mischen sich von Zeit zu Zeit die überzeitli­chen Wesen wieder in sein Leben, ohne dass Klarheit zu regieren beginnt… und dann erhält Denny Lanning von seinem alten Freund Wil McLan ein Buch zuge­eignet, in dem dieser über das Wesen der Zeit im Antlitz der Gegenwart von Quantenphysik und Relativitätstheorie sinniert – und sehr ähnliche Gedanken entwickelt, die Lanning selbst hegt. McLan ist offensichtlich der einzige Mensch, der diese seltsamen Dinge zu durchschauen vermag. Aber er scheint spurlos verschwunden zu sein.

Ehe Lanning diesem Rätsel nachgehen kann, ruft ihn sein alter Freund Lao Meng Shan auf den chinesischen Kriegsschauplatz, denn inzwischen sind zehn Jahre seit dem Aprilabend in Harvard vergangen… und in einem Luftgefecht über der Küste Chinas wendet sich Denny Lannings Schicksal zum Schlechten, als er mit seinem Freund abgeschossen wird.

Und doch – danach geht das Abenteuer erst richtig los, denn ein geheimnisvol­les fliegendes „Schiff der Toten“ rettet sie beide. Es handelt sich um die „Chroni­on“, ein geniales Schiff, das durch die Zeit reist. Und Dennis Lanning ist auserse­hen, der Commander der Zeitlegion zu werden – um die Macht Gyronchis zu bekämpfen und das glänzende Jonbar und Lethonee Wirklichkeit werden zu las­sen. Doch mit Entsetzen müssen die Kämpfer der Legion erkennen, dass Jonbar verlischt und alle Zukunftslinien auf das trostlose, tyrannische Gyronchi zulau­fen.

Dennoch nehmen sie den Kampf auf, heldenhaft und verzweifelt…

Der Roman von Jack Williamson ist erstmals im Jahr 1952 erschienen, vor mehr als 60 Jahren, und man merkt selbst dieser vollständigen, ungekürzten Version sehr deutlich an, dass sie ein Kind der Pulp-Ära ist, dass Williamson mit den Abenteuergeschichten eines Robert Howard und E. E. Smith aufgewachsen ist, denn ganz derselbe Geist spricht auch aus diesen Seiten. Ich habe ihn damals nach dem Erscheinen gelesen, aber den Inhalt wieder vollkommen vergessen, so dass es eine interessante Neuentdeckung war, dieses antiquarisch 1997 ge­kaufte Buch aus der weitläufigen Reihe ungelesener Werke zu ziehen und inner­halb von drei angenehm unterhaltenen Tagen zu verschlingen.

Das Buch bietet kurzweilige Unterhaltung, etwas heroische, kantige Personen­charakterisierungen in einprägsamer Schlichtheit, und wenn man nicht sehr viel mehr über den Charakter der Zeit und über Paradoxien weiß, die damit einher­gehen, wenn man anfängt, mit der Zeit zu manipulieren, dann kann man dieses Garn vielleicht sogar ernstlich genießen. Ich nehme an, das amerikanische Pu­blikum hat damit deutlich weniger Schwierigkeiten als ich etwa. Bei Zeitreisege­schichten komme ich nämlich stets ins Grübeln und versuche zu durchschauen, ob das, was geschrieben steht, so denkbar und realistisch ist, und hier muss ich leider sagen – Fehlanzeige auf ganzer Linie.

Warum?

Ohne zu viel verraten zu wollen: es geht ja darum, Jonbar oder Gyronchi unge­schehen zu machen. Zunächst schwindet Jonbar dahin, und damit fangen die Probleme an… denn wenn Jonbar nicht mehr da ist, wie wäre es dann wohl möglich, dass Denny Lanning ganz zu Beginn von Lethonee gewarnt wird, die es ja gar nicht gegeben hat? Ist nicht möglich. Mithin wäre er dort ins Flugzeug ge­stiegen und gestorben, und der ganze Roman wäre Makulatur. Das kann Wil­liamson natürlich nicht machen, also biegt er seine Wahrscheinlichkeiten so zu­recht, dass sie Sinn zu ergeben scheinen. Der kritische Verstand vermag ihm aber nicht mehr zu glauben.

Und wie ist es dann mit Gyronchi in der zweiten Hälfte des Romans? Wenn die­se Welt samt ihrer finsteren Königin nur eine vage Hypothese bliebe bzw. ganz verschwände, wie sollte dann wohl jene schreckliche Versuchung überhaupt möglich werden, die das ganze Verhängnis letzten Endes auslöst? Sie ist nicht möglich. Und so weiter und so fort… da wird auf martialische, abenteuerliche Weise versucht, ein nahezu ungetrübtes Happy End zu konstruieren, und wenn man den Verstand abschaltet und die logischen Ungereimtheiten einfach unter den Teppich kehrt, klappt das auch. Aber jenseits davon, und wenn man drüber nachdenkt… da muss man Williamson attestieren, dass er vielleicht einen Klas­siker der Science Fiction geschrieben hat, aber sehr gut durchdacht ist er mei­nes Erachtens nicht. Na ja, und schweigen wir mal von den vielen Schreibfeh­lern, die das Lektorat hier einstreut, um den Leser zu irritieren (ich sage nur: „Rendesvouz“!). Das tut dann richtig weh. Also lieber schnell weiterlesen…

Nichts für kritische, logisch denkende Geister, würde ich sagen, sondern eher für schlichte Gemüter, die temperamentvolle Action wünschen, dabei den Ver­stand aber an der Kinokasse abgeben… oder so ähnlich.

© by Uwe Lammers 2013

Und nein, wie einleitend gesagt, ich denke, der Roman ist aufgrund seiner logi­schen Inhaltsfehler keineswegs ein Fall für den Müllhaufen der Geschichte, da­für strahlt er einfach von seinem Thema und der schwungvollen Prosa, der le­bendigen Charaktere zu viel Reiz aus.

In der kommenden Woche nehme ich euch auch auf eine Zeitreise mit, die frei­lich von völlig anderer Art ist. Wir besuchen dann das 14. Jahrhundert und einen Mann, den man den Sire de Coucy nennt. Wem das jetzt schon etwas sa­gen sollte: Psst! Verderbt mir die Überraschung nicht… und auch nicht den spektakulären Auftritt einer meiner Lieblings-Sachbuchautorinnen, von der ihr hier in meinem Blog noch mehr erfahren werdet.

Also, nicht vergessen – nächsten Mittwoch wieder zuschalten, es lohnt sich!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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