Rezensions-Blog 64: Leila. Ein bosnisches Mädchen

Posted Juni 14th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Krieg ist eine grässliche Geißel der Menschheit, das ist heutzutage in den Köp­fen der meisten klugen Menschen fest verankert. Zumal in jenen Ländern, die selbst schon seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr erlebt haben, beispielsweise in Deutschland.

Doch die Wogen des Krieges berühren uns immer wieder und spülen das menschliche Strandgut dieser Konflikte an unsere Gestade. Flüchtlinge wie jene, die aktuell aus dem Nahen Osten in großer Zahl über den Balkan nach Zentraleuropa gelangen. Opfer nicht zuletzt einer von Großmachtinteressen und Kurzsichtigkeit geleiteten Weltpolitik, die dilatorisch wirkt und zu oft denkt, was weit weg von uns geschehe, das sei irrelevant für die Gesellschaft vor Ort. Dies ist ein tragischer Irrtum. Und selbst wenn Friedensschlüsse Konflikte vor­geblich abschließen, führt dies durchaus nicht immer zu so etwas wie Gerech­tigkeit.

Es gibt so etwas wie bittere, vergiftete Friedensschlüsse, und solche histori­schen Zäsuren übersehen nur zu gern das Leid und die Schrecken, die die zivilen Opfer erlitten haben und die dann dem Vergessen anheimfallen. Ein solches Beispiel möchte ich euch mit dem nachfolgenden Buch gern vorstellen, weil ich es für sehr wichtig halte.

Folgt mir in einen Alptraum der jüngsten europäischen Geschichte:

Leila. Ein bosnisches Mädchen

Von Alexandra Cavelius

Ullstein-Buch

244 Seiten

Wie schmal ist der Grat zwischen Normalität und Monstrosität? Sehr schmal. In diesem Buch ist beides so eng miteinander verflochten, dass der Leser manch­mal an seinem Verstand zweifelt. Und wenn er die letzten Seiten hinter sich ge­bracht hat und fragt, was für Folgen sich daraus ergeben, was die Weltgemein­schaft tut, um dem Recht wieder zur Geltung zu verhelfen, der muss erschüttert erfahren, dass… dies alles vergessen worden ist. Dass man die Würde der Opfer nachträglich mit Füßen tritt und die Verbrecher belohnt.

Doch vielleicht sollte ich vorne beginnen.

Die Geschichte spielt in Europa, soweit man den Balkan dazu zählen möchte (was die Politiker heute mehrheitlich tun, manche möchten diese Länder sogar gerne in absehbarer Zeit in die Europäische Union aufnehmen, wovon ich vor­erst noch eindringlich abraten will.1 Die Gründe werden aus dem Folgenden er­sichtlich sein). Sie spielt nicht vor fünfzig oder sechzig Jahren, zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, sondern gewissermaßen „gestern“.

Das Leben der Hauptperson Leila beginnt am 17. September 1976, womit sie fast zehn Jahre jünger ist als der Rezensent. Und doch fühlt sie sich nach eige­nen Angaben „oft wie eine Großmutter“, und sie fährt fort: „Es ist lange her, dass ich als normales Mädchen ein normales Leben geführt habe. Meine Ver­gangenheit sieht man mir nicht an. Manche Leute behaupten sogar, dass ich schön wie Schneewittchen sei. Weiße Haut, schwarze Haare und Augen wie Kohle. Groß und schlank. Wie oft habe ich mir gewünscht, hässlich zu sein. Viel­leicht wäre mir manches erspart geblieben…“

Kryptische Worte zu Beginn?

Nicht mehr lange.

Leila wird in eine muslimische Familie in Bosnien hineingeboren, doch ihre Mut­ter flüchtet noch, als Leila ein relativ kleines Kind ist, vor ihrem brutalen Mann zu einem befreundeten Kroaten, den sie später heiratet. Das schockiert zwar die konservativen muslimischen Kreise, allerdings nur im Heimatdorf. In größe­ren Städten sind gemischte Ehen völlig normal.

Bis zum Jahre 1992.

In diesem Jahr beginnt der von Slobodan Milosevic angezettelte Krieg im einsti­gen Jugoslawien, ursprünglich der Kampf um serbische Hegemonie, doch das gerät rasch außer Kontrolle. Die seit Jahrzehnten von der kommunistischen Par­tei zusammengehaltenen Völkerschaften des Vielvölkerstaates entwickeln sich auseinander, Nationalismus grassiert, Nationalstolz wuchert aus dem Boden wie ein ungesunder Pilz.

Aus all dem macht sich Leila nichts, die sich in all ihrer Eitelkeit und Leichtlebig­keit ein Leben als künftiger Star vorstellt. Vielleicht, so denkt sie, geht sie zum Theater, wird Mannequin, Schauspielerin, Sängerin… sie schwärmt für Madon­na, Michael Jackson und westliche Popmusik, trägt moderne Mode und interes­siert sich nicht im Mindesten dafür, ob jemand ihrer Nachbarn Serbe, Kroate, Bosniake oder Moslem ist. Der Krieg ist etwas Fernes, Seltsames, er geht sie nichts an. Sie leben doch völlig normal in B. 2, nicht wahr? Der Krieg ist sicher nur von kurzer Dauer, er geht vorüber, solche Zeiten sind doch längst vorbei…

Aber sie irrt sich.

Seit September 1991 hält sich Leila in der Stadt K. auf, um vier Jahre Mittelschu­le zu absolvieren. Dort feiert Leila auch ihren 15. Geburtstag. Es ist der letzte, den man normal nennen kann. Der letzte für lange Zeit, an den sie überhaupt DENKT.

In K. gefällt es ihr ausgezeichnet, die Verwandten dort sind sympathisch, doch der Krieg holt sie hier furchtbar schnell ein. Ihre Nachbarstadt Bihać wird bom­bardiert und eingekesselt. Und dann gerät die Stadt K. unter Beschuss. Das ist jedoch nicht das Schlimmste: der Krieg in den Köpfen ist viel entsetzlicher – auf einmal konvertieren selbst Leilas Mitschülerinnen zu fanatischen Serbenhassern und werden von dem Sog der Ideologie völlig vereinnahmt.

Leila versteht noch immer nicht. Sie ist so naiv, wie jeder von uns es wäre.

Als die Angriffe vorübergehend eingestellt werden, kommt aus der Nachbar­stadt Velika Kladuša ihre Tante Nermana vorbei, eine rund dreißigjährige Frau, die Leila einlädt, doch mal bei ihr vorbeizuschauen. Arglos, wie das Mädchen ist, willigt es ein.

Während Leila sich bei der Tante befindet, setzen die Kämpfe wieder ein. Sie sitzt bei ihr fest. Und dann werden sie beide bei einer Polizeidurchsuchung aus der Wohnung gezerrt und ins Polizeirevier geschleppt – wo Nermana jählings behauptet, Leila nicht zu kennen. Während Nermana kurze Zeit später wieder zurückkehren kann, wird Leila verhört und schließlich beschuldigt, eine Spionin zu sein. Ehe sie versteht, was passiert, schlägt diese Ungeheuerlichkeit in bruta­le Gewalt um:

Als mich der Polizist über die Türschwelle schob, fragte ein fetter Wächter: ‚Warum ist die denn hier?‘… Der Polizist antwortete: ‚Das ist eine Spionin.‘ Mit voller Wucht schlug mir der Fettsack ins Gesicht. Dann packte er mich an mei­nen langen Haaren und schlug meinen Kopf mehrmals an einen eisernen Ofen. Danach spürte ich nichts mehr…“

Und das ist erst der Anfang.

Wenig später findet sich die nur noch spärlich bekleidete Leila in der so genann­ten „Putenfarm“ wieder, einem von Paramilitärs eingerichteten Konzentrations­lager in einer alten, stillgelegten Lagerhalle, die einst für Geflügelzucht diente. Hier werden viele Frauen und Mädchen unter erbärmlichen Umständen festge­halten, äußerst kärglich verpflegt, schikaniert und… vergewaltigt.

Leila befindet sich, ohne dass irgendwer davon weiß, in einem der berüchtigten Vergewaltigungslager der Serben3, und hier verliert sie ihre Unschuld unter den brutalen Wächtern, die sich einen zynischen Spaß daraus machen, ihre Opfer zu foltern und zu quälen. Wie ihre hohlwangigen, teilnahmslosen Gefährtinnen stumpft Leila schnell ab und hofft bald nur noch, dass dieser Alptraum irgend­wann ein Ende hat. Ja, sie sehnt sich sogar herbei, dass man sie endlich auf den Hof hinauszitiert, wo die Soldaten „Russisches Roulette“ mit ihren verzweifelten Opfern spielen (wobei manche wirklich durch Kopfschüsse ums Leben kommen; andere Mithäftlinge verschwinden spurlos).

Als Velika Kladuša drei Jahre später, im August 1995, befreit wird, fragen Leilas Verwandte natürlich voller Angst sofort nach, was denn aus Leila geworden ist. Aber Nermana behauptet, sie sei niemals bei ihr angekommen, sondern auf dem Weg entführt worden. Niemand glaubt das, aber das Gegenteil lässt sich nicht beweisen: wie so viele Menschen ist Leila in den blutigen Wirren des Bür­gerkrieges spurlos verschwunden.

Für ihren Verrat wird Nermana niemals belangt werden.

Was aber geschah mit Leila?

Sie blieb vier lange, schreckliche Monate auf der Putenfarm und hoffte immer­zu darauf, dass sie in die Freiheit zurückkehren könne, glaubte noch immer an eine bizarre Form von Justizirrtum. Als schließlich der oberste Lagerkomman­dant Iuvuz Begić anreist, nimmt sie an, das Schicksal werde sich bessern. Sie wird „zum Verhör“ auf die schwarze Festung mitgenommen, doch die Freund­lichkeit ihr gegenüber ist nur vorgetäuscht.

Anstatt in die Freiheit zu gelangen, wird Leila von neuem vergewaltigt und als private Gefangene gehalten. Und am fünften Tag kommt Begić zu ihr und sagt: „Es tut mir leid, Leila, aber ich muss dich umbringen.“

Der Tod wäre ein Geschenk für Leila gewesen, ohne Zweifel. Aber das Schicksal ist manchmal ein grausamer Weggenosse – sie wird nicht getötet. Stattdessen verschachert Begić sie für zwei Stangen Zigaretten an die Schwarze Legion, und in den folgenden Monaten wandert Leila gezwungenermaßen durch die Betten vieler Soldaten und durch zwei Bordelle. Sie gibt zu, dass sie sich bis heute an diese Monate nicht mehr klar erinnern kann: „Mir fehlen ganze Stücke. Oft wer­fe ich alles durcheinander. Mich würgt die Erinnerung. In dieser Zeit habe ich nicht mehr gehofft und nicht mehr phantasiert. Diese Kerle hatten meine Seele zerstückelt…“

Während all dieser Zeit – und das kommt gut in den ständig eingestreuten (und manchmal durch Druckfehler falsch datierten) Tagebucheinträgen ihrer Mutter zum Vorschein – versucht die Mutter, ihre Lieblingstochter Leila zu finden. Sie bangt um sie, und die Sorge macht sie jeden Tag kränker. Während sie evakuiert wird, ihr Mann die Arbeitsstelle verliert, während sie aufgrund ihrer gemischt konfessionellen Familie Probleme mit der Rationszuteilung hat, ist und bleibt Leila verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschlungen.

Leila geht unterdessen durch ihre ganz eigene Hölle, durch die Schattenwelt hinter den Linien des Krieges, von der man normalerweise nichts zu sehen und zu hören bekommt. Sie wandert als Sklavin, als Eigentum, als Armeehure durch die Ortschaften und Städte. Sie verliert jede Vorstellung für die Zeit, jeder Tag scheint gleich zu sein, ein elendes Vegetieren, ein stumpfsinniges Existieren ein­fach nur für die Lust der Männer. Und schließlich, vermutlich im April 1994, als Leilas Alptraum schon rund zwei Jahre währt, macht sich die Armeeeinheit, in der sie „dient“, auf den Weg „nach Hause – nach Kladuša“. Dorthin darf Leila nicht mit, schließlich könnte sie ja, vielleicht, irgendwann über das reden, was man ihr angetan hat. Also beschließen die Soldaten, sie zu erschießen und im Wald zu verscharren.

Vielleicht wäre auch das eine Gnade gewesen.

Doch der Soldat, der das tun soll, macht etwas anderes. Er rettet sie und ist un­gewöhnlich fürsorglich. Statt Leila zu töten, nimmt er sie mit zu sich – auf eine serbische Polizeistation. „Er grüßte die Soldaten, die am Tisch fläzten“, erzählt Leila. „Sie glotzten mich an, als käme ich von einem fremden Planeten. Ein bar­füßiges und verdrecktes Skelett in Uniform stand vor ihnen…“

Auf eine schreckliche, entmenschlichte Weise ist sie erwachsen geworden, bis zum Scheitel angefüllt mit Selbsthass, grauenerfüllt von ihrem Spiegelbild. Das könne sie nicht sein, redet sie sich ungläubig und schockiert ein, nicht dieses Wrack…

Leila will eigentlich nur noch, dass alles endlich zu Ende geht, aber sie ist noch lange nicht dort angekommen, wo ihr Leidensweg schließlich aufhören wird. Bis dahin kommt noch der Irrweg in die serbische Feldküche, durch die Frontlinien, der Marsch tief nach Serbien hinein… ja, und dann ist da schließlich noch Rat­ko, durch deren Bekanntschaft sich ihr Leben auf eine ganz eigenwillige Weise wandelt. Doch ob man das Glück nennen mag…

Das Leben meint es nicht gut mit Leila, so oder so betrachtet. Und ihre Seele hat bis heute keine Ruhe, selbst wenn sie es geschafft haben sollte, im Jahre 2000 vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auszusagen, doch das ist fraglich…4

Das Abkommen von Dayton schuf im Jahre 1995 die Grundlagen für einen fragi­len Frieden im ehemaligen Jugoslawien. Slowenien, das wohl vom Krieg am we­nigsten berührte Land, wurde 2004 in die Europäische Union aufgenommen, Bosnien, Kroatien und Serbien bemühen sich darum, ebenfalls in diese Gemein­schaft zu gelangen. Viele Menschen, die aus berechtigten Gründen heraus aus Jugoslawien geflohen waren und Zuflucht beispielsweise in Deutschland such­ten, sind in den vergangenen zehn Jahren repatriiert worden, viele zwangswei­se. Die Begründung lautete leider immer sehr ähnlich: es herrsche Frieden in ih­rer Heimat, der Krieg wäre vorbei, der Ausbruch neuer Gewalttätigkeiten sei nicht zu erwarten. Also bestehe kein Grund mehr dafür, die Flüchtlinge in Deutschland zu halten, wo sie (was man so laut nicht sagte) nur dem Steuerzah­ler auf der Tasche lägen.

Doch was erwartet die Rückkehrer? Und was erwartet jene, die durch die Bür­gerkriegswirren hindurch daheim blieben – was immer „daheim“ heute heißen mag (auch davon erzählt Leilas Mutter, sie selbst erst recht)? Die Arbeitslosen­quote ist erschreckend hoch. In Bosnien und Serbien, so schrieb es einmal die ZEIT, erhalten ausschließlich jene Männer Arbeit, die „im Krieg“ waren. Diejeni­gen, die sich dem Kriegsdienst verweigerten, und sei es aus moralischen Grün­den heraus, die Menschen also, die sich weigerten, das Hab und Gut fremder Leute zu verwüsten, die sich weigerten, Menschen abzuschlachten, die nur fälschlich die verkehrten Namen oder die falsche Religion besaßen, jene Män­ner also, die sich weigerten, Mädchen und Frauen – wie Leila – in Vergewalti­gungslager einzusperren (die durchaus übrigens nicht nur auf der serbischen Seite bestanden, was gerne verschwiegen wird) und dort monatelang zu miss­brauchen… diese anständigen Männer werden nun bestraft.

Ist das eine Form von Moral? Wer im Krieg amoralisch wird und mit den Wölfen heult, wird nachträglich von den Siegern dafür belohnt, dass er mordete, be­trog, vergewaltigte und zerstörte? Und die, die anständig blieben, werden be­straft? Im Krieg und nach dem Krieg?

Der gesunde Menschenverstand sträubt sich dagegen, das zu glauben. Doch im einstigen Jugoslawien ist dieses Unrecht an der Tagesordnung. Niemand geht dagegen vor, denn die heutigen Gesetzgeber waren vor zwölf Jahren selbst Tä­ter. Ein Schweigekartell verhindert die Aufarbeitung des Krieges. Weil man nur verlieren könnte.

Doch was ist mit Leila?

Sie kehrte aus dem Krieg mühsam zurück, an der Seite eines ihren Eltern frem­den Mannes, mit einem kleinen Kind, doch ihre Seele ist noch immer brandzer­narbt, wund und wird womöglich nie wieder völlig heilen. Von ihren Vergewalti­gern ist niemand gefasst und verurteilt worden. Von den Mördern ihrer Mithäftlinge in der Putenfarm und den Bordellen ist, soweit bekannt, niemand jemals belangt worden. Viele von ihnen leben als „anständige Bürger“ in jenen Städten, die sie plündern geholfen haben, deren Bewohnerinnen sie miss­braucht und ermordet haben, und aus schierer Angst heraus wagt es kaum je­mand, etwas zu sagen. Heute spielen sie „anständige Nachbarn“ ihrer Opfer.

Um in Den Haag aussagen zu können, muss man Geld und gute Kontakte besit­zen, man muss imstande sein, den psychischen Alptraum, der jedes Wort in der Kehle ersterben lässt, noch einmal zu durchleben. Viele Frauen sind dazu außer­stande, haben keine Kraft mehr, hassen ihren Körper und vielleicht auch jene Kinder, die auszutragen sie gezwungen wurden. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, gibt es auch viele in ihren eigenen Volksgruppen und eigenen Familien, die ihnen offen vorwerfen, sie hätten das doch bereitwillig getan, sei­en gerne zu Huren geworden. Oder wenn nicht das, so werden sie in Schimpf und Schande gemieden und aus der Gesellschaft ausgestoßen, wo sie doch der Fürsorge und des Mitgefühls viel eher bedürfen! Wen wundert es, dass viele dieser Frauen sich inzwischen umgebracht haben, weil sie es nicht ertragen konnten, ausgestoßen worden zu sein, weil sie arglos Opfer fremder Gewalt wurden?

Redet hier irgendwer von Gerechtigkeit?

Ja, es ist ohne Zweifel wichtig, sich an die Opfer des Holocaust vor sechzig Jah­ren zu erinnern, an die ausgemergelten KZ-Opfer, die dieses Grauen überlebten. Doch es scheint viel wichtiger und bedeutsamer zu sein, dieselbe Aufmerksam­keit auch jenen TAUSENDEN und ZEHNTAUSENDEN von Männern und Frauen entgegenzubringen, die vor nicht einmal fünfzehn Jahren Opfer bestialischer Gewalt wurden und deren Peiniger bis heute nahezu alle auf freiem Fuß sind und sich ungeachtet ihrer Taten einer geradezu höhnisch zu nennenden Ge­sundheit und Hofierung erfreuen. Es scheint, als habe man aus der Behandlung Nazideutschlands nichts gelernt. Wie hätten wir denn reagiert, wenn die Alliier­ten alle Nazigrößen wieder freigelassen und sogar in die Ämter zurückbefördert hätten? Mit Gleichmut? Oder mit Empörung und Hysterie?

So etwas geschah auf dem Balkan, vor gut zehn Jahren, vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Es geschieht noch immer.

Konzentrationslager gab es nicht nur in Deutschland, es gab sie nicht nur vor sechzig Jahren, sondern sie existierten auch in Bosnien, in Serbien und in Kroatien. Wie es falsch ist, nur auf die Serben und Slobodan Milosevic einzuprügeln, so falsch ist es, den jeweils anderen Kriegsparteien eine weiße Weste zu attes­tieren. Wie es die Autorin und freie Journalistin Alexandra Cavelius, die Leilas Geschichte wiedergibt, gegen Schluss richtig festhält: „Das Schicksal dieses jun­gen Mädchens spiegelte den ganzen Wahnsinn des Krieges auf dem Balkan wi­der. Feindbilder verschwanden. Alle waren schuldig. Egal, ob Moslems, Serben oder Kroaten. Doch unter den Bösen gab es immer auch Gute.“

Das Leben zeigt sich beharrlich resistent gegen vereinfachende Vorurteile und nationalistische Ideologien. Das Schicksal Leilas und ihres serbischen Lebensret­ters Ratko zeigt das nachdrücklich.

Natürlich, und das sei als Problem dieses Buches nicht verschwiegen, muss man vorsichtig sein, was den Glauben angeht. Leila – und Cavelius – sagen überein­stimmend, dass die Erinnerungen schwankend, manchmal nicht vorhanden sind. Dass vieles durcheinandergeht und es durchaus sein kann, dass Leila Dinge mit ihrer Lebensgeschichte vermengt hat, die nicht Teil davon waren. Gleichzei­tig scheint aber ebenso klar, dass vieles nicht erzählt wurde, vielleicht nicht er­zählt werden konnte, dass die Demütigungen und Qualen jedes vorstellbare Maß übersteigen. Die ganze Wahrheit ist vermutlich so schlimm, dass Leila sie bei klarem Verstand nicht ertrüge.

Leila, das fünfzehnjährige Mädchen, das in dem Sumpf des Krieges beinahe un­terging, kehrte als zwanzigjährige, junge Mutter zurück, einen Meter achtzig groß, aber nur 42 Kilogramm schwer, ungeachtet ihrer Eingangsworte für immer vom Krieg gezeichnet. Und, vergessen wir das nicht, sie hatte GLÜCK. Die weitaus meisten Frauen im jugoslawischen Vielvölkerkrieg hatten das nicht, von den meisten hat man nie wieder etwas gehört.

Sind die Mörder von Srebrenica jemals belangt worden? Sind die Massenverge­waltiger in den jugoslawischen Teilrepubliken je vor Gericht gestellt worden? Zehntausende oder gar Hunderttausende haben sich an diesen Verbrechen beteiligt. Kann man zulassen, dass diese Menschen unbehelligt weiterleben, zum Teil Seite an Seite mit ihren Opfern?

Wer garantiert, dass es nicht wieder beginnt? Heute oder morgen?

Wenn die Gerechtigkeit, wie immer man sie definieren mag, nicht zumindest ein Stück weit durchgesetzt wird (und damit ist nicht nur die oberste Führungs­ebene gemeint), dann schwelt die Saat der blutigen Ideologie weiter und immer weiter.

Der Balkan bleibt unter diesen Bedingungen ein Pulverfass. Die Ermordung mancher Kriegstreiber wie des berüchtigten Arkan helfen da nur bedingt weiter. Es bedarf grundlegenderer Klärungsprozesse und umfassender gerichtlicher Vergeltungsmaßnahmen zugunsten der Opfer.

Und die Schuld gegenüber den weiterlebenden Opfern tragen auch wir Europä­er. Es wird Zeit, dass wir diesen Krieg dem Vergessen entreißen und zur Hilfe schreiten.

Leila und ihre Gefährtinnen würden es uns danken.

© by Uwe Lammers, 2005

Harter Stoff, meine Freunde? Ja, selbstverständlich. Aber ich bin der Auffas­sung, dass es auch Bücher wie dieses, die den Leser – gleich mir – zutiefst er­schüttert und fassungslos zurücklassen und leider keineswegs in den Raum der reinen Fiktionalität projiziert werden können, es absolut wert sind, dem Verges­sen entrissen zu werden. Geschichte fand nicht nur in zurückliegenden Jahrhun­derten statt, sie ist auch Teil unserer Gegenwart, und wie ich oben schon beton­te: so wichtig es ist, an die Opfer der fernen Vergangenheit zu denken, so darf uns das nicht blind für die Schrecken der Gegenwart machen.

Ich halte dieses Buch für eine wichtige Schrift, und ich traue es euch zu, diese Rezension ebenso durchzustehen wie das Buch selbst, das es wahrscheinlich nur noch antiquarisch gibt.

In der kommenden Woche mache ich dann wieder deutlich weniger Worte, und dann begeben wir uns zurück in die Welten des amerikanischen Fantasy-Autors Robert E. Howard. Schaut einfach wieder rein, Freunde.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Man merkt an dieser Stelle, dass die historische Wirklichkeit die Aktualität der Rezension überholt hat: Während Slowenien schon am 1. Mai 2004 Teil der Europäischen Union wur­de, ist dies Kroatien erst am 1. Juli 2013 gelungen. Bosnien, Serbien und Montenegro sind seit 2010, 2012 bzw. 2008 Beitrittskandidaten, das Beitrittsverfahren ist aber m. W noch nicht sehr weit gediehen.

2 Nahezu alle Ortsnamen und auch viele Personennamen sind geändert bzw. gekürzt. Wer das Buch liest, wird das rasch verstehen, wenngleich das vom historischen Standpunkt aus betrachtet auch bedauerlich ist.

3 Wer sich einen kleinen Eindruck davon verschaffen möchte, wie Frauenrechtsorganisatio­nen schon im November 1993, als also dieses Grauen gerade erst begonnen hatte, schon auf dieses Problem aufmerksam machten, halte sich an Alexandra Stiglmayer (Hg.): „Mas­senvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen“, Fischer 12175, November 1993. Die Aufsatz­sammlung sensibilisiert auf erschütternde Weise für dieses Thema.

4 Wer das Nachwort gelesen hat, wird das verstehen, es soll hier nicht vorweggenommen werden.

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