Liebe Freunde des OSM,
wie ich neulich sagte, werfen wir heute mal eine Art von Blick in die Psyche von Menschen der Gegenwart und machen eine Reise ganz besonderer Art, die auch vom Standpunkt der individuellen politischen Willensbildung zweifellos interessant sein dürfte. Während André Leysen, der Verfasser des vorliegenden Buches, den meisten meiner Leser, die vielleicht mehr auf Phantastik abonniert sind, kaum viel sagen wird, spreche ich in der Rezension ein paar wichtige Punkte an, die vielleicht beinahe von zeitlosem Charakter sind.
Mir scheint insbesondere der Gedanke der mentalen Verführbarkeit in unseren gegenwärtigen Tagen wieder sehr wichtig, und einen Blick „hinter den Spiegel“ zu werfen, also die Seele solch verführter und gewissermaßen später „geläuterter“ Menschen zu betrachten, das kann niemals verkehrt sein. André Leysen ist solch eine Person, und was er uns zu erzählen hat, ist – mit den unten gemachten Abstrichen – absolut lesenswert.
Wenn ihr neugierig seid, lest weiter:
Hinter dem Spiegel
von André Leysen
Goldmann 12709
256 Seiten, TB
Juni 1996, damals 14.90 DM
Aus dem Niederländischen von Dr. Helga Ahlers
In Zeiten, in denen Verwirrung in der politischen Arena herrscht, Perspektivlosigkeit die Menschen verstört und etablierte Parteien keine Patentrezepte wissen, breitet sich unweigerlich ein Virus aus, den man gerne totschweigt oder tot glaubt: Extremismus aller Farben und Inhalte. Rassisten tauchen aus dem Dunkel auf, rechtsradikale Schlägertrupps, linksgerichtete Gegendemonstranten (wie man sie gerne nennt), Bombenleger und ähnliches. Besonders anfällig sind dann stets die jungen Menschen, deren Wissen noch nicht allzu weit reicht, die den Einflüsterungen leicht erliegen.
In einer solchen Zeit ist es hilfreich, wenn ein Betroffener aus eigenem Erleben aus seiner Kindheit erzählt und davon, wie er sich vom Saulus zum Paulus wandelte. Eine solche Person ist André Leysen, der heute Ehrendoktor der Universität Löwen ist und in zahlreichen Aufsichtsräten sowie im Verwaltungsrat der Treuhand-Gesellschaft saß, als es um die Umgestaltung der neuen Bundesländer nach der deutschen Wiedervereinigung 1990/91 ging. Das ist das Gesicht, was er heute zeigt, das, was man von André Leysen heute kennt – bevor er dieses Buch schrieb.
Leysen ist im Jahre 1927 in Flandern geboren, lediglich neun Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und nur zwölf weitere vom nächsten Weltkrieg entfernt, in einer Zeit also, in der die Verhältnisse in jeder nur erdenklichen Weise zerrüttet waren. Seine Heimat war im „grande guerre“ verwüstet worden, und viele deutschfreundliche Flamen hatten damals unter Repressalien gelitten, als sie nach dem Krieg enteignet und in die Flucht (meist nach Deutschland) getrieben wurden.1
Auch André Leysens Eltern waren deutschfreundlich, blieben aber von Enteignung und Vertreibung verschont. Als sich über das kleine Land innerhalb der belgischen Grenzen erneut das Gespenst jenes Alptraums nahenden Krieges legte, da wünschten sich die Leysens sehnlichst, dass Adolf Hitler und die Deutschen dieses Mal mehr Glück hätten als zwischen 1914 und 1918. Anfangs ging ihr Wunsch in Erfüllung.
Der junge André zeichnete Militärkarten und trug ständig die Geländegewinne ab, dies war für ihn gleichsam wie ein großes Spiel. Den Ernst der Lage erkannte er lange nicht, auch dann nicht, als er bereits begeistertes Mitglied der flämischen Hitlerjugend war. Auch dann nicht, als er in den 40er Jahren nach Deutschland gebracht wurde, zunächst für Schulungskurse, später zur Evakuierung und letztlich als jüngstes Mitglied einer flämischen, deutschfreundlichen Exilregierung in Berlin.
Heutzutage stellt sich Leysen kritisch selbst die Frage, wie er so lange derartig blind für die Ausweglosigkeit der Lage sein, ja, wie er so innig an das „Genie“ des Führers glauben und sich von Tag zu Tag selbst betrügen konnte.
Schließlich, als die Vorhänge der Lüge und Täuschung zerreißen, gelingt es Leysen mit einem der letzten Züge gen Süden, die eingekesselte und unablässig bombardierte „Festung Berlin“ zu verlassen und auf einer abenteuerlichen Odyssee dorthin zurückzukehren, wo alles begann – nach Flandern. Und doch ist dies nicht das Ende. Denn schließlich stand er auf der falschen Seite, und wohin er geht, herrschen nun die Sieger…
André Leysens Buch besticht durch die ungemein glatte, geschmeidige und eloquente Sprache, durch die es mühelos gelingt, es rasch und zügig zu lesen. Man erfährt sehr viel mehr als allgemein üblich (und weitaus lebendiger als in regulären Geschichtsdarstellungen) über das kleine, manchmal rätselhafte Land Flandern im Herzen Europas und die wechselvolle Geschichte der dort lebenden Bevölkerung, weil Leysen oftmals weit in die Geschichte ausholt. Er bemüht sich, nach Möglichkeit den Abgrund von – damals – 50-70 Jahren zu überbrücken und sich in sein kindliches alter Ego zu versetzen, um zu zeigen, wie sehr Selbstgenügsamkeit und engstirniges Denken, Verlockung durch Oberflächlichkeiten und auch dogmatische Erziehung seitens der Eltern dazu führen können, dass man als Kind und Jugendlicher einer menschenverachtenden Ideologie anheimfällt.
Nachteilig ist an dem Buch indes die zeitliche Gebrochenheit. Das heißt, es gibt keinen konstant durchgehaltenen Erzählfluss. Immer wieder kommen Absätze, manchmal ganze Kapitel vor, die einfach ganz andere Dinge erzählen: beispielsweise von der psychologischen Genese von Hitlers Rassenwahn, vom Aufstieg des Kommunismus, von der Entwicklung der Demokratie und den Lehren, die man von den Märtyrern des NS-Regimes (das Buch etwa ist der ermordeten Cato Bontjes gewidmet) lernen kann.
Diese Kapitel hinterlassen dann einen zwiespältigen, manchmal moralingetränkten Eindruck. Zwar ist dem, was André Leysen hierin sagt, fast ausnahmslos zuzustimmen… aber es wäre manchmal besser gewesen, wenn er solche Resümees und Fazits erstens nicht mitten im Text gebracht hätte und wenn er sie, zweitens, gelegentlich sogar dem Leser selbst überließe. So kommt man sich als geschichtsinteressierter, wissender Leser gelegentlich bevormundet vor, als wäre man ein kleines Kind. Man fühlt sich ein wenig wie in der Schule vor einem „allwissenden“ Geschichtslehrer mit seinem erhobenen Zeigefinger.
Unangenehm.
Zudem ist an manchen Stellen festzuhalten, dass der Forschungsstand, auf dem Leysen damals fußte, heute überholt ist. So bezeichnet er etwa Albert Speer mehr oder weniger unverblümt als eine Art Mitläufer, der vom Holocaust kaum Ahnung besaß… wie wir wissen, ist das eine Legende, die Speer nach dem Krieg selbst in die Welt setzte und der sogar der Historiker Joachim Fest auf den Leim ging.
Vergleicht man dieses Buch etwa mit den erschütternden Aufzeichnungen der Opfer Janusz Bardach2 (für die sowjetische Seite) und Rena Kornreich Gelissen3 (für die jüdische Seite), so erhält Leysens Porträt seiner Vergangenheit doch etwas fast schrullig Harmloses. Nichts, was man leichthin lesen kann, wiewohl der Stil dazu einlädt, aber doch nicht so gründlich reflektiert, wie es vielleicht gutgetan hätte. Leysen ist einfach kein Historiker.
Dennoch ist dies keine Anti-Rezension, denn das Buch verdient es, gelesen zu werden. Und sei es auch nur, um einen Blick ins Innere eines Menschen zu werfen, der in einem Land aufwuchs, in dem einem Volksstamm das Gefühl gegeben werden sollte, kein eigenes Volk zu sein und das sich, in verwirrenden, zerrüttenden Zeiten, eine Ersatz-Identität suchte, sich auf den Weg machte, ohne jemals anzukommen.
Und manchmal, wenn ich heute Nachrichten aus Flandern höre, dem flämischen Belgien, dann glaube ich, dass sie noch immer nicht angekommen sind. Menschen aber, die unterwegs sind, bedürfen stets der Aufmerksamkeit. Denn man weiß nie, welche Wege sie noch einschlagen werden…
© by Uwe Lammers, 2005
Ich bin der Überzeugung, dass auch zehn Jahre nach Abfassung dieser Rezension die wesentlichen Kernpunkte darin noch immer stimmen – gerade in Zeiten wie heute, wo mehrere gute und sehr belesene Bekannte von mir, die z. T. die Nazizeit noch selbst als Kinder erlebt haben, angesichts der Nachrichten der Jetztzeit das Erstarken faschistischen Gedankenguts fürchten, hat diese Rezension und damit dieses Buch ihre Bedeutung zurückgewonnen.
Wenn ich mir so ansehe, was derzeit an Flüchtlingselend und, häufig damit verbunden, an Fremdenfeindlichkeit und mitunter unverhohlenem Rassismus an der Tagesordnung ist, dann wird mir schon ziemlich anders. Da kann ein Blick in ein solches Werk von Nutzen sein. Wer sich hiervon angesprochen fühlt und neugierig geworden ist, sollte sich auf die Suche nach dem Buch machen.
In der kommenden Woche gleiten wir dann wieder vollends in phantastische Fahrwasser ab und begleiten einen glücklosen Protagonisten bei einer wilden Odyssee durch Zeit und Raum, inklusive Körperwechsel und Motorrad fahrenden Runkelrüben… wer das jetzt nicht versteht, sollte nächsten Mittwoch reinschauen und Näheres in Erfahrung bringen.
Ich verspreche euch – das Vergnügen lohnt sich wirklich!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Das widerfuhr etwa dem Flamen Anton Moortgat-Pick. Vgl. mein biografiegeschichtlicher Aufsatz „Julius de Lattin – Ein Professor auf Abwegen“. Er findet sich in dem „Heimatbuch 2005 des Landkreises Wolfenbüttel“ und wurde im Dezember 2004 publiziert.
2 Vgl. meine Rezension zu Janusz Bardach & Kathleen Gleeson: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Diese Rezension ist für den Rezensions-Blog in Vorbereitung.
3 Vgl. meine Rezension zu Rena Kornreich Gelissen: „Renas Versprechen“. Diese Rezension ist für den Rezensions-Blog in Vorbereitung.