Liebe Freunde des OSM,
heute besuchen wir mal einen exquisiten Alptraum, der völlig harmlos und unscheinbar herüberkommt, selbst vom damaligen Titelbild der Goldmann-Ausgabe, wo wie schlichte Nukleide herumfliegen sehen. Es geht um die Entwicklung intelligenter Maschinen, und ich kann euch versichern, so etwas wie Skynet oder die Terminatoren sind dagegen harmlose Dinger. Brutale Gewalt… wirklich, kindisch.
Schaut euch diesen Roman an, Freunde, so alt er auch sein mag, und lernt das wirkliche Grauen robotischer Intelligenz und Erbarmungslosigkeit kennen – mit den Humanoiden des Planeten Wing 4.
Vorhang auf:
Wing 4
von Jack Williamson
Goldmann 03
224 Seiten, TB (1962)
Übersetzt von Otto Schrag
Was macht das Menschsein aus? Die Fähigkeit, selbständig Entscheidungen zu treffen, für sein Schicksal allein verantwortlich zu sein im Rahmen der Gesellschaft und seiner Möglichkeiten? Ist Glück davon abhängig, dass man sich jeden Wunsch erfüllen kann und imstande ist, alle Gefahren für Leib und Seele abzuwenden? Oder ist da noch mehr, was vielleicht so einfach nicht zu erfassen ist?
Jack Williamsons Roman „Wing 4“, entstanden aus einer Kurzgeschichte, kreist um dieses Problem auf eine durchaus erschreckende Art und Weise.
In einer fernen Zukunft, Tausende von Jahren von der Jetztzeit entfernt, hat sich die menschliche Zivilisation weit in der Milchstraße ausgebreitet und zahllose neue Kulturen geschaffen, die zum guten Teil bereits wieder durch Zwistigkeiten und Katastrophen in sich zusammen-gesunken sind. Viele Kolonisten haben die Raumfahrttechnik vergessen und sind jahrhundertelang in primitive Gesellschaftsformen abgeglitten.
Eine Reihe solcher benachbarten Welten hat nun jedoch den Wiederaufstieg geschafft – und prompt typisch menschlicherweise eine militärische Feindschaft ins Leben gerufen. Die so genannten triplanetaren Mächte bedrohen nun jene Welt, die das Zentrum dieses Romans ist. Hier lebt die Gesellschaft in permanenter Furcht vor einer Invasion und hat eine Rüstungsspirale in Gang gesetzt, die sich zu verselbständigen droht.
Eine entscheidende Rolle hat der Wissenschaftler Clay Forester inne, der anhand einer Supernovaexplosion eine epochale neue wissenschaftliche Erkenntnis gewann: er erfand überlichtschnelle Geschosse, die auf der sogenannten „rhodomagnetischen Kraft“ beruhen. Seine größte Furcht ist jedoch, dass auch die triplanetarischen Mächte imstande sein könnten, diese Formeln zu entdecken und entsprechende Waffen zu erfinden. Ein Overkill würde dann nicht nur möglich, sondern angesichts der hysterischen Stimmung auch äußerst wahrscheinlich werden.
In dieser bedrohlichen Situation taucht in der Abgeschiedenheit seines Observatoriums – neben dem die unterirdischen Waffenlabors liegen – ein kleines, heruntergekommenes Mädchen namens Jane Carter auf, das dringend mit Forester sprechen möchte. Der jedoch wird hermetisch abgeschirmt.
Auf rätselhafte Weise schafft es das Kind allerdings, in die streng geheime unterirdische Forschungsstätte vorzudringen und ihm eine Nachricht zu überreichen. Ein „Philosoph“ namens Mark White möchte ihn sprechen.
Zusammen mit seinem engen Mitarbeiter, dem Mathematiker Frank Ironsmith, der gegenüber dem Leben und der Karriere bemerkenswerte Gleichmütigkeit an den Tag legt – ganz der extreme Gegensatz zu dem nervösen, ruhelosen und von Magenbeschwerden geplagten Forester – nimmt er diese Gelegenheit wahr. Und nun wird er konfrontiert mit einer heruntergekommenen Gruppe menschlicher Rebellen, die über parapsychische Gaben verfügen.
Sie warnen die Wissenschaftler: bald würden Raumschiffe von einem Planeten namens Wing 4 erscheinen, einer einstmals von Menschen bewohnten Welt, auf der der Wissenschaftler Warren Mansfield eine Gruppe von Maschinen geschaffen habe, die verhindern sollten, dass die Menschheit jemals wieder von Krieg heimgesucht wird.
Doch diese Grundsatzprogrammierung, so White, sei zu perfekt gewesen. Die Menschen würden dermaßen bemuttert, dass dies die schrecklichste Diktatur wäre, die man jemals gesehen hätte. Forester glaubt das nicht, Ironsmith scheint die Automaten – wenn es sie denn gibt – sogar zu begrüßen, schließlich steht die ganze bekannte Welt vor einem hysterischen Kurzschluss wegen der allgemeinen Kriegspanik, und eine Friedenswelt erscheint erstrebenswert.
Als Forester aber bald darauf während einer Generalstabsbesprechung zum ersten Mal mit einem sogenannten Humanoiden konfrontiert wird, ist er schockiert. Die Maschinen erklären mit entwaffnender Offenheit, dass sie nicht kommen, um zu unterdrücken oder zu unterjochen, sondern um den Menschen zu dienen und sie glücklich zu machen.
Streng genommen haben sie gar keine Wahl.
Die Flotte von Wing 4 landet und Hunderttausende von Maschinen schwärmen aus, um ihre Vision einer glücklichen Menschheit zu verbreiten. Diese Vision mutiert freilich entsetzlich schnell in einen Alptraum und die erschreckenden Seiten überwiegen rasch die positiven Entwicklungen.
Das Militär wird abgeschafft, Wissenschaft wird für zu gefährlich erklärt, als dass Menschen sie ausführen dürften (ebenso wie Schwimmen, das Benutzen menschlicher Verkehrsmittel, das allein auf den Balkongehen, das Reinigen von Räumen usw.). Das Observatorium, Foresters ganzer Stolz, wird kurzerhand demontiert. Menschen, die sich bevormundet fühlen und auflehnen – und somit „unglücklich“ sind – , werden einer Behandlung mit einer Substanz namens „Euphorid“ unterzogen. Daraufhin verlieren sie weitgehend das Gedächtnis und fallen zum Teil in ein frühkindliches Stadium zurück (wie beispielsweise Foresters Frau Ruth). Außerdem begleitet eine Maschine jeden Menschen auf Schritt und Tritt.
Die Welt wird zum Alptraum der permanenten Überwachung und Reglementierung.
Forester, der weiß, dass die Maschinen vom Planeten Wing 4 via rhodomagnetischer Strahlen ferngelenkt werden, sieht nur eine Möglichkeit: er muss seine rhodomagnetischen Granaten dorthin abschießen und den Planeten vernichten.
Aber Schritt für Schritt werden seine Hoffnungen zunichte gemacht, selbst Menschen erweisen sich als Verräter an ihrer Rasse und machen mit den Maschinen gemeinsame Sache. Die Sache der Roboter scheint so lange auf dem Siegeszug zu sein, bis Forester mit unbekannten Kräften, die er in sich entdeckt, den Kampf aufzunehmen fähig ist…
Williamsons Plädoyer für behutsamen Umgang mit intelligenten Maschinen und Technik insgesamt hat eine beklemmende Intensität. In dem Roman stellt er die Grundwerte der Freiheit denen eines mechanisierten Glücks gegenüber, das im Kern zutiefst inhuman ist, selbst wenn die Intention ursprünglich von Humanismus initiiert wurde. Der Kampf Foresters gegen Wing 4 ist ein Kampf von David gegen Goliath, der prinzipiell nicht gewonnen werden kann, und die Methoden, die er finden muss, um doch zu widerstehen, scheinen selbst ihm zutiefst unmenschlich.
Der Roman ist natürlich Teil seiner Zeit. Die Geschichte, auf der er basiert, entstand 1947, und die starke Polarisierung im Roman hat ihr Echo in der politisch-militärischen Polarisierung der damaligen Welt. In den uniformen Heerscharen der Roboter wird man unschwer die kommunistische Drohung der damaligen Welt erkennen, während Forester der Prototyp für den nervösen, leicht paranoiden Wissenschaftler ist, der damals während des Krieges in westlichen Staaten in verstärktem Maße tätig war. Das erzeugt bemerkenswerterweise den Effekt, dass Forester nicht als direkter „Held“ und Sympathieträger herhalten kann, gar zu verbissen und fanatisch wirkt er. Und zur allgemeinen Beunruhigung des Lesers entspricht auch der „Feind“ nicht dem Klischee des „Bösen“, was ihn aber nicht minder grauenhaft macht.
Die philosophischen Fragen des Buches sind es wert, dass man eingehend über sie nachdenkt. Selbst nach rund 40 Jahren nach der Publikation haben sie nur wenig an Intensität verloren. Die Frage, was das Glück des Menschen ausmacht, ist heute wie seit Menschengedenken aktuell. Die Überlegung, ob die Menschheit vielleicht besser dran wäre, wenn es eine allgegenwärtige Instanz gäbe, die Fehler verhindert, die wir machen, könnte man diskutieren.
Meine eigene Ansicht ist freilich, dass Menschen Fehler benötigen und Fehlschläge brauchen, um daran zu lernen und zu wachsen. So, wie ein Kind beim Gehen lernen stolpert und sich wehtut, es dann aber wieder und wieder versucht und geschickter wird, so muss der menschliche Geist Schwierigkeiten in den Weg gestellt bekommen, um an ihnen zu wachsen. Ohne Anforderungen, glaube ich, verkümmert die Gabe des Geistes, und letztlich vielleicht sogar damit die Lebensfreude.
Williamsons Automaten sind zu perfekt für die Welt, sie wollen zu vollständig die Menschheit um ihrer selbst willen kontrollieren, und sie begreifen nicht, dass die Fehler, die die Menschen begehen und die sie mit bester Absicht verhindern möchten, der Kern der Menschlichkeit sind. Indem sie die Menschheit glücklich machen wollen, vernichten sie das, was sie eigentlich bewahren wollen.
Gegen diese Roboter sind die Borg bei Star Trek wirklich unbedeutend. Dies hier ist der wahre Alptraum. Auch heute noch.
© by Uwe Lammers, 2001
Wer den Roman kennt, wird mir möglicherweise in meiner Beurteilung beipflichten. Wer ihn nicht kennt… nun, antiquarisch ist das Werk zweifellos noch zu haben. Ich stufe es wie beispielsweise auch Ray Bradburys „Mars-Chroniken“ oder Arthur C. Clarkes „2001“ als eines der frühen Meisterwerke der Science Fiction ein, das in gewisser Weise zeitlos ist.
In der kommenden Woche nehme ich euch mit in einen Alptraum völlig anderer Art, der wirklich sehr von dieser Welt ist und mit einem Mädchen zu tun hat, das mit allen Traditionen bricht.
Wer neugierig geworden ist, schaue am nächsten Mittwoch einfach wieder hier herein.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.