Liebe Freunde des OSM,
heute lade ich mal ein wenig meine aktuellen Seelenlasten bei euch ab, das ist einfach mal nötig… doch glaube ich, dass das für euch durchaus erhellend sein kann und vielleicht gar, falls mal jemand in eine ähnliche Situation kommen sollte, eine gewisse Hilfestellung bieten mag.
Wovon spreche ich? Von einer Art von papiernem Erinnerungsverlust. Das ist es, was ich heute erlebe und was vor einer Woche begonnen hat. Aber damit ihr versteht, was ich eigentlich sagen will, müssen wir, wie schon so oft, eine Zeitreise machen. Sie geht zurück in die frühen 80er Jahre.
Als meine Eltern sich dafür entschieden, in der niedersächsischen Gemeinde Gifhorn ein Eigenheim zu erwerben, schrieb man Ende des Jahres 1982. Ich war gerade 16 Jahre alt geworden, hatte Probleme in der Schule und versenkte mich Tag für Tag mit steigender Leidenschaft in so seltsame Dinge wie Comics und phantastische Literatur, die ich aus der Stadtbücherei in Wolfsburg auslieh. In Wolfsburg lebten wir damals noch, und mein Vater arbeitete dort für Volkswagen.
Ich hatte längst erste, zaghafte Kontakte in die Fanszene geknüpft, mit der Lektüre von Heftromanen begonnen – die „erste Liebe“ REN DHARK war schon wieder entschlummert, dito die „zweite Liebe“, die TERRANAUTEN. So gelangte ich dann zur „dritten Liebe“: Perry Rhodan. Und es setzte etwas ein, was ihr vermutlich fast alle kennt: man kauft sich Romanhefte und behält sie. Der Stapel der Heftromane wurde also nach und nach größer.
Als wir Anfang 1983 nach Gifhorn zogen, führte mich notwendig einer meiner ersten Gänge zur dortigen Stadtbücherei, wo ich neue interessante phantastische Entdeckungen machen sollte (so Marion Zimmer-Bradley, Mark Helprin und Carlos Fuentes, um nur ein paar Highlights zu nennen).
Und ich spürte, je länger wir in Gifhorn lebten, umso stärker etwas, was mir in Wolfsburg irgendwie noch nicht so präsent gewesen war: spätestens nach 4-6 Wochen musste ich die ausgeliehenen Bücher wieder zurückgeben, und es kam regelmäßig vor, dass ich sie noch nicht ausgelesen hatte.
„Eine eigene Bibliothek wäre echt nicht schlecht“, sagte ich, meine Regale in meinem neuen eigenen Zimmer betrachtend, die vergleichsweise leer waren. Selbst die inzwischen paar hundert Romanhefte verloren sich darin beinahe. Also begann ich, inzwischen in der Lehre und darum finanziell etwas besser aufgestellt, weitere Romanquellen zu erschließen.
Ich fand Flohmärkte, ich entdeckte bei Besuchen in Hildesheim nahe meinen Großeltern ein Romanheftantiquariat, in Wolfsburg gab es einen Tauschladen… und es gab Romanversande, die preiswert große Kontingente mit phantastischen Taschenbüchern abstoßen wollten.
Ich schlug zu.
Meine Romanheftsammlung wurde größer, meine Leseleidenschaften diversifizierten sich, die Taschenbücher füllten mehr und mehr Regalplatz, dann Schrankplatz… und dazu kamen Briefordner, Geschichtenordner, Pappmappen mit eigenen geschriebenen Romanen… eine phantastische Zeit.
1989 erfolgte der erste Bruch mit meinem Zivildienst und dem Plan, danach im Raum Köln Arbeit zu suchen. Ein Plan, der übrigens recht schnell scheiterte. In der Zwischenzeit war ein Platz für meine Romanhefte gefunden worden – auf dem Dachboden. Dort wurden auch Hunderte von Taschenbüchern eingelagert. Meine Eltern vermieteten mein altes Zimmer an Untermieter, und als mein Zivildienst 1990 endete und ich überraschend doch wieder nach Gifhorn zurückkehrte, fand ich quasi kein Zuhause mehr.
Ich wurde in den Keller umquartiert (kein Witz, Freunde! Meine Freundin Conny könnte euch davon noch die eine oder andere launige Anekdote erzählen). Dorthin wanderten dann in den Folgejahren auch eine Menge neu gekaufte Taschenbücher und Heftromane. Denn natürlich las ich weiterhin, natürlich kamen ständig weitere literarische Stoffe dazu, wenn auch deutlich weniger als Anfang der 80er Jahre.
Schließlich verlagerte ich, weil der Keller zu kühl und zu feucht war, mein Domizil ins Erdgeschoss des elterlichen Hauses (Nordfenster, also nicht eben ein optimaler Arbeitsort, sondern ständiger Dämmerraum… am besten geeignet für Vampire). Dort besuchten mich Brieffreunde, aber es war und blieb alles sehr beengt.
Ich absolvierte die Fachoberschule Wirtschaft 1991, und dann von 1991-1994 das Wolfsburg-Kolleg. In der ganzen Zwischenzeit las ich natürlich weiter Heftromane und sammelte sie munter. Das war so eine Art papiernes Gedächtnis geworden, und ich entsinne mich lebhaft, manche Brieffreunde Anfang der 90er Jahre mit erstaunlich präzisen Wiedergaben der Serienhandlung der Perry Rhodan-Serie über die ersten tausend Bände hinweg fasziniert zu haben, so gut hatte ich sie verinnerlicht (die Romane waren ja auch schon längst alle in meinem Besitz und die meisten davon inzwischen zweimal gelesen).
1994 begann ich dann mit dem Studium in Braunschweig, und im Herbst 1995 zog ich in die Wohnung um, die heute noch mein Domizil ist. „Mein“ Zimmer in Gifhorn wurde derweil Mutters Arbeitszimmer. Die meisten gesammelten Bücher und Heftromane landeten wo?
Richtig: auf dem Dachboden.
Und damit verschwanden sie gründlich aus dem Blick.
Was geschah derweil in Braunschweig? In den folgenden neunzehn Jahren lebte und arbeitete und schrieb ich hier, und natürlich sammelte ich weiterhin Romanhefte (womit ich dann mit Erscheinen von Perry Rhodan 2100 aufhörte). Und ich sammelte Romane. Und ich entdeckte die erotische Literatur als neues Lesefeld. Und es kamen Zeitschriften hinzu (gab es in Gifhorn mit der Zeitschrift GEO auch schon, die ich seit 1994 abonniert hatte, aber jetzt kamen NATIONAL GEOGRAPHIC und GEO EPOCHE und andere hinzu). Außerdem war ich regelmäßiger Mitarbeiter an Fanzines und z. T. regelmäßiger Chefredakteur geworden.
Ihr könnt euch denken, dass die Menge an Gedrucktem hier in einem Maße anwuchs, wie ich es früher für unmöglich hielt. Zahlreiche Antiquariate in Braunschweig gaben mir zudem dermaßen viel interessanten neuen (und preiswerten!) Lesestoff, dass ich immer öfter von neuem zugriff. Das war, eingestanden, ein wenig manisch, aber ich glaube, gewisse Züge davon kennt ihr wohl alle.
Wo ist jetzt das Problem?, mögt ihr euch fragen.
Dazu kommen wir jetzt: Ursprünglich hatte ich geplant, die Taschenbücher, Bücher und Heftromane nach Braunschweig nachzuholen. Aber dort war inzwischen ebenfalls kein Platz mehr dafür. Und da mich ganz andere Sorgen plagten, verlor ich diesen Plan aus dem Blick. Sicherlich, die meisten Bücher, die noch im Keller „überwintert“ hatten, hatte ich inzwischen nachgeholt (und, ein ungewohnter Zug für mich, z. T. auch weiterverschenkt). Doch die Romane auf dem Dachboden waren buchstäblich aus dem Blickfeld verschwunden.
Schlimmer noch: nachdem mein Bruder das Obergeschoss des elterlichen Hauses ausgebaut hatte, seinen Plan aber nicht realisierte, statt der maroden Dachbodentreppe eine Wendeltreppe einzubauen und das Dachgeschoss ebenfalls auszubauen, war der Dachboden quasi unzugänglich geworden.
Das war so bis zum vergangenen Wochenende, und damit begannen die Probleme dann richtig.
Eigentlich hatten sie schon früher begonnen, nämlich am 5. Mai – mit dem recht überraschenden Tod unserer Mutter. Danach, das habe ich verschiedentlich angedeutet, begannen komplizierte juristische Auseinandersetzungen, die schließlich Mitte August in einem Gespräch mit unserem Testamentsvollstrecker kulminierten. Er gab uns freie Hand für das Ausräumen des Haushaltes.
Und wir stießen am vergangenen Wochenende auf den Dachboden vor.
Ich wusste, „da sind noch Romane von mir“… aber ehrlich, Freunde, ich machte mir überhaupt keine Vorstellung von der Menge. Einen Umzugskarton voll mit Videokassetten (!) schrieb ich sofort ab. Es gab in unserer ganzen Familie keine Abspielgeräte mehr dafür. Das konnten wir also vergessen. Aber dann entdeckte ich einen Umzugskarton voll Krimitaschenbücher. Und noch einen voller phantastischer Romane von Heyne, Bastei und anderen Verlagen. Leihbücher. Und Heftromane. Große Kartons voll. Kleine Kartons. Ein ganzes Regal voll… die Terranauten-Taschenbücher. Die ersten sechshundert John Sinclair-Romanhefte. Zeit-Kugel. Commander Scott. Ren Dhark. Mythor. Dragon. Die Abenteurer. Und Perry Rhodan… Perry Rhodan… Perry Rhodan…
Um Gottes Willen, dachte ich, der ich inzwischen mit Heftromanen nicht mehr viel anfangen konnte. Da wird man ja verrückt… was tun mit all diesen Dingen, in denen Jahrzehnte an Leseerinnerungen komprimiert und gespeichert waren? Ich stand schwitzend und ratlos davor (man sollte dazu erwähnen, dass an dem nämlichen Tag draußen 30 Grad herrschten und auf dem Dachboden eher Saunatemperaturen sich mit hoher Staubigkeit mischten).
Nun, ich tat das, was ihr auch getan hättet: Das Haus soll geräumt werden? Dann also am besten mal zunächst alles, was ich mitnehmen möchte, runterbringen.
Womit ich nicht rechnete, war, dass meine Geschwister in den Streik traten. Aus – nachträglich betrachtet – verständlichen Gründen. Da sie deutlich weniger sentimental als nüchtern-rational veranlagt waren, stellten sie die Frage, die ich nach hinten schob, zuerst: Wo willst du das alles lassen?
Ihre Folgerung: In Braunschweig hast du gar nicht genug Platz. Nach Braunschweig kommt „das Zeug“ also nicht. Das verstörte mich dann. Was war die Alternative?
„Container!“
Ich dachte, ich höre nicht richtig, und ich glaube, das geht euch ähnlich. Inzwischen hatte ich über den Daumen gepeilt, wie viel Material da vorhanden war, und ich kam auf etwa 3000 Heftromane und wenigstens 500 Taschenbücher und Bücher. Mal ganz abgesehen von den früher investierten monetären Werten – das alles wegwerfen? Das würde ich mir im Leben nicht verzeihen!
Es war ein harter Tag, dieser 30. August 2015, an dem diese Diskussionen geführt wurden, kann ich euch sagen, aber in einem Punkt setzte ich mich schließlich durch: Ich lasse nicht zu, dass diese Werke einfach so von Banausen – und das waren und sind in diesem Punkt meine Geschwister, so sehr ich sie sonst auch liebe – als Altpapier entsorgt werden. Nicht, wenn es eine Möglichkeit gibt, diese Werke in Hände von Leuten zu geben, die damit besser umzugehen verstehen und ihren Wert zu schätzen wissen.
Also begab ich mich, zurück in Braunschweig, auf die Suche nach einer Alternative, und ich hatte auch schon eine im Blick, nämlich einen Comicladen in der Innenstadt, dessen Inhaber ich seit Jahren kenne und der auch meine E-Book-Flyer eifrig unter die Leute bringt.
Er selbst musste abwinken, aber er vermittelte mir dann den Kontakt zur Bremer „Comic Mafia“, die ich unverzüglich anmailte. Und ja, dort bestand großes Interesse an einer geschenkten Romansammlung. In etwa zwei Stunden, von jetzt an gerechnet (wir schreiben den 6. September 2015), werde ich Besuch bekommen, den Teil der zu veräußernden Sammlung, der schon hier in Braunschweig ist, einladen und dann nach Gifhorn weiterfahren, um die Räumung zu vervollständigen.
Ich weiß nicht, ob der gute Mann das alles mit einem Mal mitbekommen wird, aber wir versuchen unser Bestes.
Ich sehe das alles, wie ihr euch denken könnt, mit einem lachenden wie weinenden Auge. Zum einen habe ich den Felskoloss von meiner Seele poltern hören, weil die Drohung mit dem „Container“ fort ist. Auf der anderen Seite wird natürlich von jetzt an auch eine Art Loch in meiner Seele sein, wie ein tiefer Sprengtrichter, der nur ganz allmählich von Wind und Wetter gefüllt und eingeebnet wird.
Mit diesen Romanen verdunsten immerhin nahezu vollständig gut dreißig Lebens-Sammeljahre, und ihr könnt mir glauben, dieser Abschied, so notwendig er auch ist, fällt mir überaus schwer.
Ich nenne das eine Form von Erinnerungsverlust… gewiss habe ich nach wie vor später immer noch bestimmte Assoziationen und Erinnerungen, insofern ist der Begriff ein wenig unscharf gewählt. Aber im Gegensatz zu meiner sonstigen Buchsammlung, wo ich einfach ans Regal gehen kann, um nachzuschlagen, wenn ich was präzise wissen möchte, werde ich meine Romanhefterinnerungen oder die Erinnerungen an die fortgeschenkten Bücher nicht mehr so leicht auffrischen können.
Das ist betrüblich. Es ist ein bisschen so wie mit einer Lebensphase, die unwiderruflich endet: die Kindheit, die Teenagerzeit mit der Pubertät, die Schulzeit, die Ausbildung… alles vorbei, aber nicht vergessen.
Da jedoch diese Romane zugleich den Beginn meiner phantastischen Sammelzeit darstellen und gewissermaßen Kronzeugen meiner frühen kreativen Entwicklung sind, fällt mir die Loslösung schwerer als in den obigen Lebensphasen, die jeder durchmacht.
Ach, ich bin einfach etwas neben der Spur, deshalb musste ich euch auch hier und heute ein wenig meine Seele ausschütten. Ich hoffe, ihr versteht damit mein aktuelles Seelenleben etwas besser und fasst mich, wenn ihr mit mir in Briefkontakt steht, ein wenig mit Samthandschuhen an. Meine Seele wird nach dem heutigen Tag etwas wund sein.
In der kommenden Woche kehren wir zum Standardprogramm zurück. Der letzte Blogartikel des Jahres 2015 widmet sich wie üblich der Rubrik „Work in Progress“. Da könnt ihr schauen, was ich im Monat September 2015 Kreatives zum Oki Stanwer Mythos erschaffen konnte.
Schaut doch einfach wieder rein, Freunde!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.