Rezensions-Blog 35: Studie in Scharlachrot

Posted November 24th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer sich jetzt denkt: Moment, den Titel habe ich doch irgendwoher schon mal gehört…, nun, der liegt damit goldrichtig, würde ich sagen. Heute geht es um ein sehr prominentes und erstaunlich dünnleibiges Büchlein aus dem späten 19. Jahrhundert, das wohl eines der bemerkenswertesten Literaturphänomene des 20. und 21. Jahrhunderts fundierte, ohne dass dem Verfasser, dem nachmaligen Sir Arthur Conan Doyle, dies so klar sein konnte.

Ja, wir sprechen von dem Roman, in dem der berühmteste beratende Detektiv der Geschichte, nämlich Sherlock Holmes himself, erstmalig ins Rampenlicht der Geschichte tritt. Zusammen mit einem Afghanistan-Veteranen, rasch sei­nem Adlatus und Freund, Dr. John Watson.

Ungeachtet des Alters ist der Roman bis heute in der Übersetzung frisch und geschmeidig zu lesen, und nach wie vor ein Lesevergnügen, das leider bei ra­scher Lektüre nur einen Nachmittag füllt.

Egal – Vorhang auf für Arthur Conan Doyle und Sherlock Holmes:

Studie in Scharlachrot

(OT: A Study in Scarlet)

von Sir Arthur Conan Doyle

Ullstein 2655, Januar 1988

168 Seiten, TB

Übersetzt von Beatrice Schott

Der junge englische Arzt Dr. John Watson ahnt nichts Böses, als er sich nach dem Abschluss seiner Arztausbildung zum fünften Füsilierregiment Northum­berland als chirurgischer Assistent einberufen wird, um an einem Feldzug nach Afghanistan teilzunehmen. Doch sehr bald wird Watsons abenteuerlich begin­nende Karriere durch eine Schulterverletzung und üble Krankheiten brüsk un­terbrochen, so dass er als nahezu mittelloser Veteran nach England zurückkeh­ren muss, um von einer bescheidenen Invalidenrente zu leben.

Hier sucht er in London sein Auskommen und braucht dazu ein Quartier, ein günstiges… da trifft es sich gut, dass ein gewisser Herr Sherlock Holmes eben­falls eins sucht. Watson argwöhnt noch immer nichts Böses, als er sich mit dem eigentümlichen Mann anfreundet, der zu Schwermut neigt, grüblerisch ist – oder eben den ganzen Tag außer Haus, der eine Reihe sonderbarer Gäste „aller verschiedenen Schichten“ empfängt und offenbar keinem vernünftigen Beruf nachgeht. Watsons Versuche, Holmes´ Profession zu erraten, bleiben frustrie­rend ergebnislos.

Erst nach einer Weile kristallisiert sich heraus, weshalb das so ist, und Watsons hartgesottene Skeptikernatur wird auf eine arge Probe gestellt: Holmes be­hauptet nichts weniger, als ein „Detektivberater“ zu sein, und zu seiner Kund­schaft zählen unter anderem zwei Detektive von Scotland Yard, Gregson und Le­strade.

Als sich dann die Chance bietet, Holmes´ Fähigkeiten sozusagen „in Aktion“ ken­nenzulernen, lässt sich der noch nicht wieder ganz genesene Watson die Sache nicht entgehen. So gerät er mitten hinein in den Fall, den Holmes ironisch eine „Studie in Scharlachrot“ nennt und der bald seine Absonderlichkeiten offenba­ren soll:

Da findet sich ein toter Mann in erlesener Kleidung, die Taschen voller Geld und Schmuckstücke, in einem heruntergekommenen, leeren Haus. Die Todesursa­che ist rätselhaft. An der Wand ist mit Blut das Wort „Rache“ geschrieben, von dem Sekretär des Toten, einem Mann namens Joseph Stangerson, fehlt jede Spur. Ist er der Mörder? Ist der andere, Enoch J. Drebber, einem politischen Ver­brechen zum Opfer gefallen? Aber was macht dann dieser Frauenring dort? Und wie kann Sherlock Holmes schon nach wenigen Minuten Besichtigung des Tatortes felsenfest behaupten, sie suchten einen etwa 1.80 Meter großen Mann mit gesunder Gesichtsfarbe?

Ohne dass John Watson es ahnt, führt dieser erste Fall, den er mit Sherlock Hol­mes zusammen erlebt, Jahrzehnte in die Vergangenheit und mitten in das aus­erwählte Volk der Mormonen im US-Bundesstaat Utah…

Mit dem Roman „Studie in Scharlachrot“ trat zum ersten Mal im Jahre 1887 der bald legendär werdende Detektiv Sherlock Holmes mit seinem messerscharfen Verstand und geradezu magisch wirkenden Auffassungsgabe vor das Publikum in England und machte seinen Schöpfer, Arthur Conan Doyle, binnen kürzester Zeit weltberühmt. Mehrere Romane und rund 60 Kurzgeschichten sollte Doyle bis zum Ende seines Lebens noch über den rätselumwitterten Detektiv schrei­ben.

Natürlich folgten zahllose Epigonen seinen Fußstapfen und begannen, mehr oder weniger geschickt, seine Lücken auszufüllen, die Widersprüche aufzuarbei­ten, die zwischen den einzelnen Geschichten klafften oder Abenteuer rings um Protagonisten jenseits von Holmes zu schreiben.

So gibt es zahlreiche Werke, die sich um den sinistren Dr. Moriarty ranken, die faszinierende Irene Adler oder auch beispielsweise die fabelhaften Baker Street-Boys, die Holmes nicht zuletzt in diesem ersten Roman als Informanten zur Sei­te stehen.

Die vielleicht gewagteste Hommage an Holmes findet sich in der kürzlich auf den Markt gekommenen Storysammlung „Schatten über Baker Street“1 gleich zu Beginn: „Studie in Smaragdgrün“ konfrontiert den Leser mit der schockieren­den Parallelwelt des Jahres 1881, in dem Königin Victoria ein massiges, tenta­kelschwingendes Etwas ist und Holmes im Dienste der Großen Alten steht. Teil­weise ist Neil Gaimans Story wortwörtlich an „Studie in Scharlachrot“ ange­lehnt, und bis der Leser begreift, dass der Erzähler eben NICHT Dr. Watson ist (und versteht, WAS Dr. Watson in diesem monströsen Kosmos ist), vergeht eini­ges an Zeit.

Will man die Geschichten in diesem Buch, in dem Sherlock Holmes´ Welt auf die Welten von H. P. Lovecraft stößt, richtig verstehen und zur Gänze genießen, empfiehlt es sich, zuvor den Originalkanon wieder zu lesen, wie ich es gegen­wärtig tue. Und hat man dann immer noch nicht genug, kann man sich mit dem nächsten dickleibigen Band weitere Epigonen-Stories einverleiben: mit dem Ge­schichtenband „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“.2

Schaden kann’s nimmer. Mögen die Originalgeschichten auch schon fast 125 Jahre auf dem Buckel haben, so sind sie doch allemal lesbar. Und gelegentlich kann Doyle wirklich noch überraschen…

© by Uwe Lammers, 2005

Doch, auch zehn Jahre nach Abfassen der obigen Zeilen bin ich nach wie vor fas­ziniert von diesem Entree des später berühmtesten Detektivs der Welt… dass Doyle davon eher genervt war und sich später sogar genötigt sah, Holmes kur­zerhand in den Reichenbachfällen umzubringen, steht auf einem anderen Blatt. Dass ihn der „Fluch Sherlock Holmes“ später wieder einholte und er  den Mordakt umdefinieren und Holmes auferstehen lassen musste, gehört auch nicht im De­tail hierher.

Faktum ist, dass Doyle mit diesem Roman eine Legende ins Leben rief. Und wer immer sich bislang nur über Filmadaptionen oder Epigonen-Stories dem Phäno­men Sherlock Holmes genähert hat, tut gut daran, dieses Buch zu suchen. Hier­mit begann alles.

Ich meine nach wie vor: die Lektüre lohnt sich.

In der nächsten Woche machen wir die versprochene letzte Visite in Peter F. Ha­miltons „Armageddon-Kosmos“, der ja eigentlich mit der Rezension des Buches „Der nackte Gott“ abgeschlossen sein sollte. Warum das nicht ganz stimmt, er­fahrt ihr in sieben Tagen genau hier.

Bis dann, meine Freunde!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Michael Reaves & John Pelan (Hg.): Schatten über Baker Street. Mörderjagd in Love­crafts Welten, Bastei 15387 (enthält 18 Geschichten), Oktober 2005.

2 Vgl. Mike Ashley (Hg.): Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton, Bastei 14916 (enthält 26 Geschichten und zwei sehr nützliche Gesamt-Chronologien des Originalkanon sowie der meisten wichtigen Epigonen-Stories), Juni 2003. Im hiesigen Rezensions-Blog bespro­chen in der Ausgabe 5 vom 29. April 2015.

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