Liebe Freunde des OSM,
da habe ich mich in der vergangenen Woche doch tatsächlich verheddert, teilweise zumindest, indem ich behauptete, wir würden uns heute primär Alexander Demandt zuwenden… er kommt in dem vorliegenden Aufsatzband zwar zu Wort, aber ich verwechselte sein Werk über die „ungeschehene Geschichte“ prompt mit diesem hier.
Hier haben wir es einmal mehr mit so genannter „kontrafaktischer Geschichte“ zu tun, worum wir uns teilweise schon vor einem guten halben Jahr im zweiten Blogartikel dieser Reihe kümmerten, als sich „Die Gehäuse der Zeit“ mit dem Fokus auf Zeitreise beschäftigte. Auch in „Fleisch und Blut“ (Blogartikel 10 vom 3. Juni 2015) kam das schon zur Sprache, doch auch hier von Phantastenseite.
Es wurde nun Zeit, auch mal die arrivierten Historiker zu Wort kommen zu lassen. Wer Geschichte als Schulfach gehasst hat, mag hier auf den ersten Blick fehl am Platze sein… dennoch lohnt es sich, zu verweilen und sich ein bisschen auf die Gedankengänge der Geschichtswissenschaftler einzulassen. Ihr werdet sehen, Alternativwelten, Parallelwelten, Zeitreisen und „virtuelle Antike“ liegen durchaus nicht so weit auseinander, wie der erste Anschein vermuten lässt.
Taucht ein und lasst euch überraschen:
Virtuelle Antike
von Kai Brodersen
Primus-Verlag, Darmstadt 2000
176 Seiten, TB
ISBN 3-896-78221-5
Was Geschichte ist, meinen wir Menschen zu wissen. Geschichte stellt den Rahmen von Geschehnissen dar, die wir anhand von Unterlagen über die vergangenen Generationen einsehen, nachvollziehen und dokumentieren können. In Geschichte drückt sich aus, wie sich die Entwicklung der Menschheit vollzogen hat. Geschichte ist, der Name drückt es gewissermaßen aus, das, was eben geschehen ist.
Und „virtuelle Geschichte“?
Etwas Virtuelles ist ein flüchtiges Ding, etwas Ungreifbares, Mögliches, nicht Gewisses. Und dieser Begriff, angewandt auf Geschichte? Was mag das sein? Wie sieht das aus? Und – ist es nicht ein Widerspruch in sich?
Geschichte, die virtuell ist, stellt ein Spektrum an Alternativen zu dem dar, was geschehen ist. Es handelt sich um das, was ich in anderem Zusammenhang als „kontrafaktische Geschichte“ bezeichnete.1 Ungeschehene Geschichte eben, wie es einmal Alexander Demandt nannte.
In diesem Aufsatzband unternimmt der Althistoriker Kai Brodersen (Jahrgang 1958), der in Mannheim ordentlicher Professor für Alte Geschichte ist, den Versuch, zu analysieren, inwiefern die virtuelle Geschichte fruchtbar sein kann für die Untersuchung der tiefen Vergangenheit.
Als Alte Geschichte oder Antike wird üblicherweise ein Zeitrahmen definiert, der von 500 vor Christus bis etwa 500 nach Christus reicht. Darin fallen also im wesentlichen die Kulturen der griechischen Stadtstaaten in Griechenland selbst sowie deren sogenannte Pflanzstädte im westlichen Mittelmeer und rings entlang der Mittelmeerküste. Ebenfalls in diesen Zeitradius fällt der Aufstieg des Römischen Imperiums und der Zerfall der karthagischen Seemacht, das allmähliche Versinken der Phönizier und, natürlich nicht zu vergessen, die gewaltigen Heereszüge Alexanders des Großen, die am Ende der klassischen Epoche Griechenlands das Makedonenreich auf nie dagewesene Größe anschwellen ließen.
Der räumliche Rahmen reicht von den phönizischen Stützpunkten in Spanien und Britannien bis ins Industal, an die Schwarzmeerküste und ins Innere Germaniens sowie, im Süden, bis an den Nordrand der Sahara. Das ist jedenfalls der traditionelle Radius.
In der virtuellen Antike wird einiges anders, oder zumindest wird es angedacht: was etwa hätte passieren können, spekuliert der antike Autor Titus Livius, wenn Alexander der Große sich nicht dem Osten zugewandt, sondern stattdessen den Entschluss gefällt hätte, gegen Rom zu marschieren? Wäre die Geschichte anders verlaufen? Auch wenn Alexander der Große nicht im Jahre 323 vor Christus in Babylon an den Folgen einer fiebrigen Entkräftung gestorben wäre, hätte sich so einiges verändert, spekuliert Arnold Toynbee in seinem vom Herausgeber neu übersetzten und sehr lesenswerten Essay über das neue Weltreich Alexanders des Großen, das er bis in die – griechisch beherrschte – Gegenwart fortspinnt. Hier verliert er freilich den Boden unter den Füßen.
Holger Sonnabend analysiert stichhaltig eine lebensbedrohliche Krise des römischen Kaisers Augustus (Tatsache) und was hätte geschehen können, wenn er jung gestorben wäre. Auf diese Weise erhält man faszinierende Einblicke in das Funktionieren des Machtgefüges des frühen Kaiserreichs. Heinrich Heine spottet ein wenig, wenn er Quinctilius Varus im Teutoburger Wald über die Germanen siegen lässt. Es hätte unter anderem den frühen Vormarsch der Fußbodenheizungen gebracht…
Wenn Pontius Pilatus Jesus begnadigt hätte, wäre das von Bedeutung für das Christentum gewesen? Natürlich, argumentiert Alexander Demandt und führt das in seinem Essay weiter aus. Die Historikerin Karen Piepenbrink schließt die Fallbeispiele mit einer Untersuchung über den ersten christlichen römischen Kaiser Konstantin den Großen und kommt hier zu sehr ernüchternden Erkenntnissen.
Äußerst faszinierend ist die in den begleitenden Essays herausgearbeitete Feststellung, dass Althistoriker per definitionem virtuelle Historiker sind. Denn die Quellenarmut ihres Untersuchungsgegenstandes, der Mangel an Zeitzeugen und glaubwürdigen Zeugnissen macht es zwingend notwendig, zu spekulieren, zu vergleichen und Geschichtsverläufe gewissermaßen zu modellieren, für die es kaum bis keine Nachweise gibt.
Nun kommt keine Geschichtsschreibung ohne Modelle und Theorien aus, aber es ist höchst plausibel, dass diese Theorielastigkeit dann besonders stark ausgeprägt ist, wenn man wenig Fakten hat, auf die man sich stützen kann. Das ist etwa wie bei einer Hängebrücke, bei der viele Sprossen fehlen. Will man hinüber, muss man springen, man muss abschätzen, wie weit man springen kann, wie tragfähig die Konstruktion ist, man geht also Risiken ein.
Schlagend bewiesen wird diese zittrige Unterlage der Antike durch die Analyse der Biografie des griechischen Politikers Perikles, der schon früh am Beginn des Peloponnesischen Krieges Opfer der Pest wird. Der griechische Historiker Thukydides zeichnet seine Biografie erst nach dem Ende des Konfliktes auf und stilisiert Perikles zu einer heldenhaften, visionären Persönlichkeit. Jahrhundertelang stützten sich Historiker, wenn sie Perikles darstellen wollten, auf Thukydides´ Angaben. Wolfgang Will weist in seinem Aufsatz ausdrücklich nach, dass vieles von dem, was dieser über Perikles schreibt, in hohem Maße verzerrt und geschönt ist. Auf diese Weise wird Thukydides als einer der ersten virtuellen Historiker entlarvt, die mehr den Mythos förderten statt eine ehrliche und klare Aussage über die Vergangenheit zu treffen.
Wer immer sich also für kontrafaktische Geschichte, virtuelle Geschichte und wie immer man sie noch nennen möchte, interessiert, und wer überdies einiges darüber erfahren möchte, wie Historiker ihren Gegenstand, in diesem Fall die Antike, sehen, der ist hier gut aufgehoben. Er wird zugleich Zeuge von Disputen, Kritiken der Autoren untereinander und kann dadurch erkennen, dass beispielsweise Alexander Demandts sehr positives Diktum der Behandlung kontrafaktischer Geschichte von vielen Kollegen keineswegs geteilt wird.
Spannender Stoff, nicht nur für Historiker. Und eine Quelle der Anregungen für Phantasten, denen die Ideen ausgegangen sind.
© by Uwe Lammers, 2004
Wie man an dieser über zehn Jahre alten Rezension erkennt, war sie ursprünglich ganz darauf zugeschnitten, im Fanzine Baden-Württemberg Aktuell (BWA) des Science Fiction-Clubs Baden-Württemberg publiziert zu werden, wo sie dann auch erschien. Einige der in der obigen Fußnote erwähnten eigenen Werke werden wohl in absehbarer Zeit auch hier ihren Platz finden, denke ich, dann sicherlich aber in etwas aktualisierter Form.
Die Fanzines selbst, die in einer sehr geringen Auflage erschienen sind, werden kaum mehr zugänglich sein. Obwohl eine Anfrage beim Webmaster des SFCBW sicherlich nützlich sein könnte, sitzt er doch auf einer Vielzahl älterer noch nicht verkaufter BWA-Exemplare… eine Anfrage lohnt sich da bestimmt. Über die Website www.sfcbw-online.de kommt man hier weiter.
In der kommenden Woche möchte ich euch auf einen kleinen Ausflug in die Kriminalistik der nahen Vergangenheit mitnehmen. Die Bestsellerautorin Patricia Cornwell nahm sich vor Jahren einer prominenten Mordserie an und behauptete schließlich vollmundig „Case closed“ – jedenfalls, wenn die damaligen Ermittlungsbehörden ihre heute gängigen forensischen Methoden angewandt hätten.
Um welchen Fall es sich handelt? Lasst euch überraschen und seid nächste Woche wieder auf dem Posten, wenn der Rezensions-Blog 32 online geht. Bis dann, Freunde!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. hierzu etwa meine philosophische Hausarbeit „Alternative Weltentwürfe in der Science Fiction“ in BWA 220 (Januar 2002) oder die Rezensionen der Bücher „Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod“ in BWA 211 (April 2001), „Ungeschehene Geschichte“ in BWA 217 (Oktober 2001), „Der 21. Juli“ auf der Homepage des Geschichts-Vereins „Geschichte in Braunschweig“ (www.gibs.info) oder auch meine Worte zu dem Buch „Was wäre gewesen, wenn“ in BWA 254 (November 2004).