Liebe Freunde des OSM,
einmal mehr kehren wir mit der unten abgedruckten Rezension in den Kosmos von Peter F. Hamiltons Armageddon-Universum zurück, in dem die monströsen „Besessenen“ ihr Unwesen treiben und sich immer weiter ausbreiten. In diesem ersten von zwei Teilen, in die der Bastei-Verlag damals bei der deutschen Veröffentlichung den Schlussband der Trilogie aufgespalten hat, beginnen sich nicht nur die Handlungsrätsel zu klären, sondern es treten auch zunehmend Schwächen in der Argumentation auf, was mir dann allmählich die Lesefreude trübte.
Ich meine, das muss ja nicht jedem so gehen, vielleicht bin ich nur ein besonders kritischer Leser oder auch Filmzuschauer. Aber es geht mir ein wenig auf die Nerven, wenn man gegen Ende des Lese- oder Kinovergnügens allmählich merkt, dass Autor oder Regisseur die Story nicht richtig durchdacht hatten und sie am Ende noch mit ein paar Holzlatten zu vernageln suchten, in der bangen Hoffnung, das fiele niemandem auf. So etwas ist dann weniger witzig, man fühlt sich veräppelt, und das mögt ihr sicherlich auch nicht.
Deshalb wundert euch also nicht, wenn sich in diese und in die nächste Hamilton-Rezension zunehmend kritische Töne einschleichen. Ich sagte schon an anderer Stelle, ich halte nichts von Mogelpackungen. Grundsätzlich ist dieser Hamilton-Zyklus immer noch ein grandioses Lesevergnügen, aber zum Schluss eben mit einigen Missklängen. Wer nicht musikalisch ist, kann da ja einfach weghören…
Also, hier geht’s weiter:
Die Besessenen
(The Naked God, Part I)
Armageddon-Zyklus, 5. Roman
von Peter F. Hamilton
Bastei 23233
992 Seiten, TB
Februar 2001, 9.90 Euro
Übersetzt von Axel Merz
Die Besessenen…
Sie kommen aus dem Jenseits, und es gibt eigentlich nur drei Dinge, die sie unendlich fürchten: zum einen, ihre Wirtskörper wieder zu verlieren und in das grauenerregende Jenseits zurückgetrieben zu werden, in dem sie z. T. seit Jahrhunderten gelitten haben. Zum zweiten, die unablässigen Klagen, flehenden Stimmen, Flüche und Schmeicheleien aus dem Jenseits zu ertragen, die Teil ihrer tagtäglichen Existenz sind. Und, drittens, den schwarzen Himmel des Universums direkt über ihnen, wenn sie einen Planeten der Konföderation betreten und mehr oder weniger unter ihre Kontrolle gebracht haben.
Um sich einen Schutzschild zu schaffen, erzeugen die Besessenen eine rote Wolke, die offensichtlich „nur“ aus Wasserdampf besteht. Die dafür aufgewendeten Energien, das Wetter auf diese Weise zu manipulieren, sind kaum vorstellbar und nicht anzumessen. Wenn die Wolke groß genug ist, reicht sie aus, um mit einer mächtigen energistischen Anstrengung Asteroiden, Habitate und ganze Planeten aus dem Hier und Jetzt herauszuhebeln und in ein fremdes Kontinuum zu versetzen, in dem die Stimmen der Verlorenen Seelen verstummt sind und die Konföderation ihnen nicht mehr folgen kann.
Das heißt indes nicht, dass die Probleme beendet sind. Sie verwandeln sich nur.
Das Schicksal der Transformation trifft so unterschiedliche Orte wie den Planeten Norfolk und das Habitat Valisk. Auf ersterem machen die Besessenen die verwirrende Erfahrung, dass die nicht-besessenen Menschen plötzlich ebenfalls über energistische Fähigkeiten verfügen und ihnen somit kräftemäßig gleichgestellt sind. Und das ist nicht mal das wichtigste Problem. Valisk hingegen schlittert geradewegs in ein unbegreifliches Inferno.
Als Valisk die Grenze zum „Paradies der Besessenen“ überschreitet, finden sich der Erbe des Habitatgründers Rubra, Dariat, unvermittelt als Geist wieder. Und alle anderen Verlorenen Seelen wurden gleichfalls aus ihren Körpern vertrieben – sie irren als hasserfüllte Schemen durch das Habitat. Schlimmer noch: die Gastkörper, nun wieder bei Sinnen und frei (aber ausnahmslos schrecklich traumatisiert), sind zum großen Teil mit Metastasen bedeckt. Der Krebs, eigentlich eine ausgerottete Krankheit, kehrt massiv zurück, und die medizinischen Systeme Valisks versagen. Der umliegende, fremdartige Kosmos entzieht ihnen immer schneller Energie. Und dummerweise ist dieser Kosmos nicht einmal unbevölkert…
Im realen Universum beginnt der Feldzug gegen die Besessenen auf Ombey, auf der Halbinsel Mortonridge. Unter der Leitung der fanatischen Annette Eklund organisieren die Invasoren ihre Abwehrkräfte und wollen eine furchtbare Schlacht entfesseln. Stattdessen geraten sie in eine beispiellose Umweltkatastrophe, gegen die die Flutwelle vor Indonesien im Dezember 2004 beinahe harmlos anmutet.
Im Sonnensystem New California verschärft sich der Gegensatz zwischen der über die Hellhawks gebietende Kiera Salter und Al Capone. Außerdem muss Capone ständig gegen die separatistischen Kräfte seiner Untergebenen kämpfen und hat überdies Schwierigkeiten mit der Konsolidierung seiner allgemeinen Erwerbungen. Das wird noch schlimmer, als er jene illegale Station verliert, in der Antimaterie hergestellt wird.
In der Zwischenzeit gelingt es zwar dem Raumkapitän Joshua Calvert, die Gefahr des Neutronium-Alchimisten zu entschärfen, aber das ist kein Grund zur Beruhigung. Von einer weitgehend friedlichen Lösung des Problems der Besessenen sind sie alle noch weit entfernt… doch es gibt einen hauchzarten Ansatz dazu. Er kommt ausgerechnet von einer der beiden Xeno-Rassen, die sich nicht sonderlich kooperativ gezeigt haben – von den Kiint.
Sie entwickeln eine enorme, schwer begreifliche Neugierde auf jene Aufzeichnungen, die die Journalistin Kelly Tirrell auf dem Dschungelplaneten Lalonde gemacht hat. Die ungeschnittenen, vollständigen Aufzeichnungen. Der Grund dafür ist offensichtlich die Erwähnung des Schlafenden Gottes der Tyrathca. Irgendetwas daran macht die Kiint unglaublich nervös. Doch die einzigen, die dazu etwas sagen können, sind die Tyrathca selbst. Und sie stufen die Menschen inzwischen als Bedrohung ein und lassen nun ihrerseits die Maske fallen, die die Menschheit jahrhundertelang getäuscht hat…
Im vorletzten Band des Zyklus dreht Hamilton an allen Handlungsfronten massiv auf. Das tut der Geschichte nicht nur gut, denn es treten logische Probleme auf. Manche Handlungsstränge werden ziemlich brüsk entsorgt, andere so gedehnt, dass man sich ernstlich fragen muss, warum er nicht auf den Punkt kam. Solch eine Stelle ist die Handlung auf der Erde, wo Louise Kavanagh in der Tat „mysteriöse und starke Verbündete“ findet, „deren Ziele jedoch nicht ganz mit den ihren übereinstimmen“. Wenn man das freilich als Verbündete bezeichnet, ziehe ich es allerdings vor, nur noch Feinde zu haben. Der Leser wird das rasch verstehen.
Unangenehm berührt wurde ich schließlich von einem Logikschnitzer, der geeignet ist, Hamiltons ganzes Handlungsgerüst in sich zusammenstürzen zu lassen: in früheren Bänden legte er sehr überzeugend dar, dass sich Besessene aufgrund ihrer energistischen Fähigkeiten, die elektronische Felder beeinflussen, nicht in Raumschiffen aufhalten können, die Antimaterie an Bord haben. Das war alles sehr schön und gut, nur hier erzählt er uns das Gegenteil, und dann noch, ohne es plausibel zu untermauern: an Bord der Antimateriestation Al Capones befindet sich gleich eine ganze Gruppe von Besessenen, wo einer ausreichte, durch bloße Annäherung alles in die Luft zu jagen. Und später mutet Hamilton dem Leser sogar antimateriebestückte Hellhawks zu… also wirklich, das passt nicht.
Auch die Vorstellung, dass eine von den Tyrathca seit 1300 (!!) Jahren aufgegebene Weltraumarche sich ihre intakte Elektronik bewahrt hat, die zudem noch von Menschen problemlos benutzt werden kann, mutet dem Leser doch einiges zu (hier hatte er eine Menge wirklich knifflige Probleme in kurzer Zeit zu lösen, aber er hat seine Möglichkeiten m. E. ziemlich überstrapaziert).
Faszinierend beschrieben ist die monströs vergewaltigte Erd-Ökosphäre, die Stratosphärenlifts, die summende und brummende Datensphäre der Erde und der Wandel von Louise Kavanagh und ihrer kleinen Schwester, die hier auf bestürzende Weise als Köder für Quinn Dexter eingesetzt werden.
Alle Handlungsfäden bleiben nach wie vor offen und problematisch, Veränderungen zeichnen sich nur langsam ab, Lösungen derzeit gar keine. Aber Hamilton hat auch noch 1000 Seiten Platz, um auf den sprichwörtlichen Punkt zu kommen. Der letzte Band verspricht einiges an furiosem Showdown und lässt gewiss kein Auge trocken.
Bald in diesem Kino.
© by Uwe Lammers, 2005
Doch noch neugierig geblieben? Gut so. Ungeachtet der Schrammen auf dem Hintergrund des Handlungskonzepts bleibt die Story auch tatsächlich sehr spannend, und der Schlussteil lohnt sich ebenfalls, wie ich noch ausführen werde, in ein paar Wochen.
In der nächsten Woche begeben wir uns wieder in die Vergangenheit… oder eher: in die Vergangenheit, die es nicht gab. Wie das jetzt gemeint ist? Da solltet ihr mal genauer hinschauen und meiner Rezension folgen, die in die Gedankenwelt des Historikers Alexander Demandt eindringt.
Und zwischendurch könnt ihr natürlich gern noch am Sonntag einen Blick in meinen OSM-zentrierten Wochen-Blog werfen. Ich freue mich drauf.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.