Liebe Freunde des OSM,
wie ich jüngst schon versprochen habe, kehren wir heute zurück zum legendären Detektiv aus der Baker Street 226B und seinen Epigonen, von denen es bekanntlich unzählige gibt… mal mehr, mal weniger geschickte, mal mit intelligenten Einfällen, dann leider auch wieder mit eher mäßig interessanten bis misslungenen Adaptionen.
Das, was ich hier vor mir hatte, als ich mir das Buch im Jahre 2010 schenken ließ, konnte ich nicht vorhersehen – auf alle Fälle eine Anthologie mit einem ganzen Korb voll neuer und unbekannter Holmes-Fälle. Teilweise ein recht spannendes Vergnügen, teilweise eine arge Zumutung… aber wie meine Freunde wissen, habe ich schon gewisse Qualitätsansprüche an Werke, die dem Holmes-Kanon gerecht werden sollen. Das muss ja nicht jedermanns Messlatte sein. Alles in allem ist dieses Buch jedenfalls eine schöne Überraschung, und sie macht uns mit einer Reihe interessanter Nachwuchstalente vertraut, deren Namen man sich merken sollte.
Und um diese Fälle geht es dann im Speziellen:
Das Geheimnis des Geigers
von Alisha Bionda (Hg.)
Blitz-Verlag, o. O. 2006
304 Seiten, Paperback
Sherlock Holmes Criminal Bibliothek 4
ISBN 3-89840-214-2
Sechzehn Autoren hauchen dem legendären Detektiv aus der Baker Street 221B in London neues Leben ein, und so etwas ist natürlich ein Ereignis, das ich mir als alter Holmes-Freund nicht entgehen ließ. Es war darum völlig selbstverständlich, dass ich, als ich zu meinem Geburtstag 2010 dieses Buch auf dem Geschenktisch vorfand, es umgehend zu lesen begann.
Die Lektüre ist, wie kaum anders zu erwarten, durchwachsen. Manche der Verfasser waren mir schon vom Namen oder anderweitigen Textproben her bekannt, andere präsentierten hier erstmals ihre Fähigkeiten, sich in die Welt des 19. Jahrhunderts und in die Psychologie des Sherlock Holmes einzudenken. Und jeder, der sich schon einmal selbst an einer Holmes-Geschichte versucht hat, wird begreifen, dass das nicht einfach nur so dahinplätschernd geschrieben, sondern sehr scharfsinnig durchdacht sein will. Manche Verfasser sind darum im vorliegenden Band auch an dieser Herausforderung leider gescheitert, jedenfalls nach meiner Ansicht. Doch schauen wir uns die Geschichten einfach mal im Detail an, das lohnt sich.
Den Auftakt macht der in Phantastik-Kreisen nicht unbekannte Christian von Aster mit seiner Story „Das Renardi-Komplott“. Dr. Watson versucht, seinem Freund Sherlock Holmes eine Geburtstagsüberraschung zu bereiten, ohne dass dieser es merkt – wie man sich vorstellen kann, eine nicht unknifflige Sache bei Holmes´ Fähigkeiten. Dass die Geschichte wegen Albernheit des Autors in völliger Lächerlichkeit verendet, ist umso bedauerlicher. Daraus hätte man mehr machen können.
„Der Henker“ von Christian Endres, der schon als Herausgeber von Holmes-Anthologien einschlägig in Erscheinung getreten ist, spricht hingegen eine völlig andere, faszinierende Sprache: ein Mordfall im Londoner Hafen ruft Sherlock Holmes auf den Plan. Unter dem Dach eines leeren Lagerhauses baumelt eine vermummte Leiche. Und Holmes´ Deduktion tritt in Aktion… sehr prägnant.
Andreas Gruber war mit seiner Story „Glauben Sie mir, mein Name ist Dr. Watson!“ (präziser wäre natürlich „Dr. John Watson!“, doch man vergebe mir meine Besserwisserei) mit dem Deutschen Phantastik Preis 2006 ausgezeichnet worden, und das geschah durchaus mit Recht. Es handelt sich nämlich nicht nur um eine Holmes-Geschichte, sondern um eine Phantastik-Story reinsten Wassers, in der Holmes und Watson an die Grenzen ihrer Wissenschaft geraten und Watson gewissermaßen in eine andere Welt abrutscht. Rätselhafte, flehentliche Briefe von Personen, die für andere gehalten werden, erreichen den Detektiv in der Baker Street, nachdem er an der Vorführung eines Apparates des Dr. Allan Wale im November 1916 teilgenommen hat, der eigentlich einen Übergang in eine andere Dimension demonstrieren sollte… was nicht völlig fehlschlägt. Aber die Ergebnisse sind, um es vorsichtig zu sagen, haarsträubend.
Grubers enorme Belesenheit hält sogar biografischen Nachrecherchen stand, und so etwas imponiert mir stets. Ob es um Jack London oder Arthur Conan Doyle geht, Literaturanspielungen oder zeitgeschichtliche Details – Grubers Geschichte ist reich daran und sehr lesenswert. Vermutlich erschließt eine Zweitlektüre noch mehr Einzelheiten. Zweifellos eines der Highlights dieser Sammlung.
Hermann Agis steuert mit „Der Vorfall“ die nächste Geschichte bei und bewegt sich dabei auf ähnlichem Terrain wie später Dominik Irtenkauf – auf dem vom Rezensenten eher nicht geliebten Terrain der Destruktion des Holmes-Mythos. Hier wirft er die Themen Holmes und Frauen sowie Jack the Ripper zusammen und braut sie in einer eher unappetitlichen Mischung zu einem Gericht, das ich nicht recht zu goutieren wusste. Und im Detail beweist er zu wenig Sachkenntnis, wenn er Holmes´ Wohnung ins Erdgeschoss verlegt, was für seinen Plot essentiell wichtig ist. Schade, dass das so nicht geht.
„Der schwarze Joe“ von Linda Budinger – die als Holmes-Übersetzerin, und zwar eine ausgezeichnete, gut bekannt ist – ist ein Mitglied der Baker-Street-Bande, das eines Tages wie vom Erdboden verschwindet. Naturgemäß machen sich die anderen Bandenmitglieder so ihre Gedanken, kommen aber nicht recht damit vorwärts. So behelligen sie also Sherlock Holmes, der das wirklich süße Rätsel relativ schnell auflöst, ohne freilich den verschwundenen Joe wieder herbeizaubern zu können… warum das? Nun, das muss man nachlesen. Sehr reizvoll.
Die Titelstory „Das Geheimnis des Geigers“ stammt von dem mir unbekannten Matthias Heyen und ist mit gerade mal 12 Seiten eher knapp. Aber es lohnt sich. Der russische Pianist Leinad Alexandrow gastiert unerwartet in London, und Watson, der Holmes´ Musikleidenschaft kennt, ergattert Karten für die Aufführung, die indes zum Desaster gerät – der Musiker erleidet auf der Bühne einen nervösen Zusammenbruch. Aber während Watson ausschließlich die ärztliche Seite der Angelegenheit sieht, sagt Holmes anschließend: „Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir ein Verbrechen aufzuklären!“ Womit er auf grausige Weise Recht behält. Aber der deduktionistische Weg dorthin ist faszinierend und wasserdicht. Von Heyen hätte ich gern mehr gelesen.
„Der Tote von Belgrave Manor“ von Stefani Hübner-Raddatz präsentiert das, was man eine klassische Holmes-Geschichte nennen kann. Der Erzähler ist einer der Söhne der Belgrave-Familie, der zusammen mit Watson in Indien gedient hat (was unpräzise ist, denn Watson diente bekanntlich in Afghanistan!), und er ist unter Mordverdacht wegen seines Bruders George geraten. Außerdem ist ihre verlobte Cousine Lizzy in die Angelegenheit verstrickt. Doch jenseits dieses Handlungsstrangs sind es die kleinen Details, für die die Verfasserin ein glückliches Händchen hat, die die Geschichte lebendig machen: Holmes meisterhafte Deduktion, die gut getroffen wird und die wissenschaftliche Demonstration zur Sichtbarmachung von Fingerabdrücken. Eine hübsche Geschichte. Allerdings bleibt es wohl ein Rätsel der Autorin oder des Lektorats, warum Holmes im letzten Absatz der Geschichte anfängt, Watson ganz überraschend zu siezen…!
„Holmes und das Abenteuer um den Tintenklecks“ von Dominik Irtenkauf ist dann wieder so ein Tiefschlag in der Anthologie, dass ich mich echt fragte, warum man solch eine Story in die Sammlung aufnimmt. Irtenkauf, der mir noch von seinem späteren Roman „Holmes und das Elfenfoto“ in höchst unrühmlicher Erinnerung war, erfüllte alle finsteren Erwartungen wirklich aufs Beste: sein Holmes ist ein mittelmäßiger, nervöser und deprimierter Gesell, der von Watson auf dem Papier zu einem Genie aufgewertet wird. In der Realität zerbricht er an dem Anspruch und möchte am liebsten den Holmes-Mythos zerstören. Das mag ja psychologisch ganz nett sein, kommt aber – wie sein Roman – dermaßen aufdringlich psychologisierend herüber, dass jedem wirklichen Holmes-Freund die Lust an der Lektüre vergeht. Tut mir leid, Herr Irtenkauf, Sie wären gut beraten, eine eigene Detektivfigur zu entwerfen, die derlei Identitätsprobleme hat. Aber wenn dann niemand diese Geschichten lesen möchte, sollte man nicht verblüfft sein.
Markus Kastenholz führte Sherlock Holmes dann in seiner Geschichte „Die brennende Leiche“ auf ein wissenschaftliches Mysterium, das meines Wissens bis heute weitgehend ungeklärt ist: die SHC, die „Spontaneous Human Combustion“, also die menschliche Selbstentzündung. Es handelt sich dabei um ein, wie Holmes richtig sagt, seit Jahrhunderten nachgewiesenes reales Phänomen, bei dem der menschliche Körper offensichtlich aus sich selbst heraus extrem jäh und kurzzeitig so extrem hohe Temperaturen entwickelt, dass er in weiten Teilen selbst verbrennt, allerdings nicht vollständig (meist bleiben Gliedmaßen übrig, unverbrannt!), und interessanterweise wird die Umgebung damit nicht in Mitleidenschaft gezogen. Notwendigerweise gerät Holmes hier an die Grenzen seiner Ermittlerfähigkeit.1
Stephan Peters war mir seit Jahren vom Namen her durchaus bekannt, allerdings eher aus dem Horrorbereich, und so verblüffte es mich auch nicht, festzustellen, dass seine Story „Ein Fall von Nekrophilie“ genau in diesem Bereich angesiedelt ist. Wieder bekommen Holmes und Watson (anno 1904! Wenn man mir die Bemerkung gestattet, leben die beiden zu dem Zeitpunkt sicherlich nicht mehr zusammen in der Baker Street! Watson ist schließlich verheiratet) Besuch von einem Klienten, der Holmes mit der ungeheuerlichen Geschichte konfrontiert, er habe derzeit eine Affäre mit einer lebenden Toten. Interessant ist jedoch, wie verstört der Detektiv darauf reagiert, und noch schlimmer ist, was er anschließend unternimmt – dies ist ein durchaus phantastischer Versuch, Holmes´ notorische Frauenfeindlichkeit zu erklären.
Die Anmerkung am Schluss führt freilich etwas in die Irre. Peters bedankt sich hier für die Inspiration bei einem gewissen „Zeus Weinstein“. Das ist deshalb irreführend, weil „Zeus Weinstein“ ein Pseudonym ist. Dies wird aus dem Impressum des exzellenten Holmes-Romans „Die Wahrheit über Ludwig II.“ klar, in dem das Pseudonym gelüftet wird. Weinstein ist bürgerlich Peter Neugebauer. Es wäre elegant von Peters gewesen, das hier gescheit aufzuklären.
Ein faszinierendes Stück Holmes-Epigonen-Literatur liefert auch der mir unbekannte Martin Barkawitz mit „Der ägyptische Gnom“ ab. Es zeigt sich besonders an dieser Story, dass kurze Holmes-Geschichten durchweg nicht übel sein müssen, wenn sie in allen Details wohl durchdacht sind. Und das ist sie hier: wir finden nacheinander Holmes´ nervtötende Schießübungen in der Wohnung, Holmes´ messerscharfe Deduktion, zunächst auf den Besucher Goodfellow Carruthers und sodann auf den Droschkenkutscher angewandt, der sie zum Britischen Museum bringt. Der Leser kommt auf den ersten Seiten aus dem staunenden Blinzeln gar nicht mehr heraus. Und das geht noch weiter, als er den Tatort besichtigt, wo Dr. Kenneth Winterbottom sich offensichtlich in einem von innen abgeschlossenen Zimmer selbst erschossen hat. Holmes meint indessen, er sei im Zimmer ertrunken! Und das Verblüffende daran ist – er hat Recht! Aber wie genau das stimmt, muss man nachlesen. Eine köstliche, raffinierte Geschichte, unbestreitbar eine der besten der Storysammlung. Auch von Barkawitz würde ich gern mehr in der Richtung lesen. Er hat es drauf, unbestreitbar.
„Der Fall, den S. H. nicht lösen konnte“ von Christian Schönwetter (auch ein mir Unbekannter) stellt den jungen Dylan McHale in den Vordergrund, ein Mitglied der Baker-Street-Bande, das in diesem Fall einen mysteriösen Fall quasi im Alleingang löst, über den ich nicht viel andeuten möchte. Die Geschichte eignet sich eigentlich mehr für eine Anthologie von Jugendbuchgeschichten und wirkt hier ein wenig deplatziert.
„Der Tote vom Sewer“ von Klaus-Peter Walter, der später auch für den Blitz-Verlag einen Holmes-Roman verfasst hat, spielt 1897, und Inspektor Lestrade vom Scotland Yard, der Holmes aufsucht, um ihn in einer Mordsache zu konsultieren, denkt – ebenso wie Dr. Watson – in reichlich abergläubischen Bahnen. Das liegt nahe, denn der Roman „Dracula“ von Bram Stoker ist gerade erschienen, und Holmes weist nach, dass das Opfer des Verbrechens vor dem Versuch, es zu verbrennen, offensichtlich blutleer war. Leider kommt die gründliche Deduktion dieser ansonsten exzellenten Geschichte ausschließlich bis zu diesem Punkt und lässt den Leser dann äußerst konsterniert zurück, weil Walter durch Holmes am Schluss sagen lässt: „Wir werden uns ein anderes Mal um dieses Ungetüm kümmern. Heute nicht mehr, denn man hat uns für die Lösung des kleinen Rätsels um den toten Mann von Sewer lediglich fünfzehn Manuskriptseiten zugestanden. Und die sind genau jetzt gefüllt. Etwas Musik gefällig?“
Das ist, um es vorsichtig auszudrücken, eine Unverschämtheit – seitens des Lektorats!2 Manche Geschichten im Band sind fünfzig (!) Seiten lang, und diese hier, die so ausgezeichnet begann, bricht wegen Lektoratsvorgaben mitten in der Ermittlung zusammen? Das ist wirklich außerordentlich dreist und tut richtig weh. Dann wäre es besser gewesen, diese Geschichte in der vollständigen Form lieber in einer anderen Anthologie unterzubringen… oder die fragwürdige Irtenkauf-Geschichte einzusparen und die dortigen Seiten für die Verlängerung und Lösung (!) von Herrn Walters Geschichte zu verwenden.
Der mir unbekannte Kurt Mühle steuert mit „Kandelaber-Dessous“ eine so primitive Geschichte bei, dass ich mir den Namen des Verfassers wirklich nicht merken muss. Ein paar Details mögen das verdeutlichen: Holmes und Watson finden sich am Schauplatz eines Todesfalls ein. Der Tote liegt in einer Villa unter einem Kronleuchter (Kandelaber sind eigentlich mehrarmige Kerzenleuchter, insofern ist auch der Titel irreführend), ist offenbar durch den Sturz auf dem glatten Boden umgekommen, und am Kronleuchter hängt weibliche Unterwäsche. Verdächtigt wird das Dienstmädchen, die trauernde Witwe ist offensichtlich fest überzeugt von der Schuld… und dann gibt es noch den Geschäftspartner Booth, der mit dem Toten verabredet war.
Nun, um es kurz zu machen: die Story krankt an vielen Details, schon am ersten Satz, wo der „Immobilienmakler“ (!) Barrow – der Tote – erwähnt wird, erkennt man deutlich, wo der Hase entlang läuft. Der Autor hat, vielleicht aus Zeitgründen, vielleicht aus Einfallslosigkeit, eine x-beliebige Kriminalgeschichte, die ursprünglich in der Gegenwart angesiedelt war, hergenommen, kurzerhand Holmes und Watson in die Szene montiert, und was herauskam, ist Blödsinn.
Den Beruf des „Immobilienmaklers“ gab es mit der Bezeichnung im 19. Jahrhundert sicherlich nicht. Dass die Ehefrau, wie angegeben „im Kino“ war, als die Tat passierte, ist ebenfalls eine klare 20. Jahrhundert-Antwort, die in einer Holmes-Geschichte keinen Sinn macht, weil das Kino noch nicht erfunden war. Und dass der „Geschäftspartner“ Booth für die Villa seines Kollegen einen Hausschlüssel besitzt, kommt vielleicht im 20. Jahrhundert vor, aber im 19.? Da gibt man doch niemandem den Hausschlüssel! Dafür hat man Dienstboten, die die Gäste empfangen und die Tür aufmachen! Ganz zu schweigen von Holmes lächerlicher Überraschung am Schluss, weil Watson eine Waffe zückt! Watson hat regelmäßig eine Waffe dabei, und natürlich WEISS Holmes das! Wer es nicht weiß, ist der dumme Verfasser. Bitte, das ist alles Schrott! Auch diese Geschichte sollte man schnell vergessen. Sowohl das Lektorat als auch der Verfasser haben sich hiermit keinen Gefallen getan. Vergessen wir Kurt Mühle, und zwar schnellstens!
Arthur Gordon Wolf (dem ich irgendwie den Namen nicht recht abzunehmen vermag, klingt er doch zu sehr nach Arthur Gordon Pym, Edgar Allan Poe lässt grüßen!) fügt mit der langen, komplexen Geschichte „Die blaue Taube“ ein faszinierendes Stück Holmes-Geschichte ein. Es geht, streng genommen, nicht um ein Tier, sondern um ein verfluchtes Haus… jedenfalls sieht es so aus. Am Russel Square in London soll ein Haus von der Malerfirma des Mr. Joseph Duxberry gestrichen werden, aber während der Streicherarbeiten verschwindet einer der Arbeiter spurlos, und daraufhin kann Duxberry offensichtlich keine Arbeiter mehr finden, die für die Arbeit bereit sind, und der Termin droht zu platzen. Aber das ist nicht einmal das größte Problem, wie Sherlock Holmes bald schwant. Die haben vielmehr etwas mit dem Bleidach des Gebäudes und rätselhaften Inschriften zu tun. Aber wie das alles zusammengehört und was das ausgerechnet mit Dr. John Watson (!) zu tun hat… das sollte man wirklich gelesen haben. Der Leser wird wunderbar auf spekulierende, falsche Fährten gelockt. Hat mir sehr gefallen!
In der Abschlussgeschichte der Anthologie, die Bernd Rieger mit „Der Dolch“ bestreitet, machen wir den glücklicherweise letzten Ausflug ins Kuriositätenkabinett derjenigen Epigonen, die der Ansicht sind, der traditionelle Holmes-Kanon sei noch nicht reizvoll genug. Diesmal haben wir es mit einem höchst langweiligen, durchsichtigen Manöver zu tun, und schon der Untertitel der Geschichte zeigt dem Kenner, wohin der Weg weist: „Der unvergleichliche Voodoo Holmes, Master Detective“. Wir machen die Bekanntschaft mit Voodoo Holmes, dem unbeachteteren weiteren Bruder von Sherlock Holmes (der bekanntlich nur einen Bruder hatte, nämlich Mycroft, aber in dieser Geschichte hat ja sogar John Watson einen Bruder, der in diesem Fall Voodoo Holmes hilft und vor aufgeblasenem Ego geradezu platzt), und es geht um den Fall einer Voodoo-Übertragung. In Österreich stirbt die Kaiserin Sisi überraschend an den Folgen eines Attentats, und zeitgleich wird in London im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud ein Anschlag mit einem Dolch auf die Wachsfigur der Kaisern verübt… ersparen wir uns den Rest, der eigentlich nur noch Geblubber ist. Man sollte eben in einer Story nicht die Lösung des Rätsels bereits in der zweiten Zeile vorab verraten. Auch diese Geschichte gehört zu jenen, die man leicht hätte einsparen können.
Alles in allem macht die Anthologie einen sehr heterogenen Eindruck. Der Wechsel zwischen faszinierenden, bisweilen brillanten Vignetten, die sich kongenial auf die Wellenlänge der Stories aus dem Kanon einschwingen und die Figuren wieder zum Leben erwecken können, und plumpen Übungen, in denen dagegen versucht wird, Holmes munter zu demontieren oder seine Einzigartigkeit krass in Frage zu stellen (wobei man sich dann fragt, warum die Autoren Sherlock Holmes als Medium benutzten für ihre schriftstellerischen Ergüsse, und der Gedanke nahe liegt, dass man sie eigentlich als Trittbrettfahrer verstehen muss, die sich ins Rampenlicht der Öffentlichkeit katapultieren wollten, ohne Holmes zu mögen oder viel von ihm zu verstehen), ist manchmal schon recht dramatisch.
Da werden dann in den letzteren Werken bisweilen Dilettantenfehler begangen, die den Leser die Stirn krausen lassen. Etwa wenn Watson in einer Story kurzerhand Irene Adler und Professor Moriarty (!) anschreibt (!), damit sie bei einer Geburtstagsüberraschung für Sherlock Holmes helfen (!). Als wenn diese Damen und Herren postalisch so leicht zu erreichen wären, um es vorsichtig auszudrücken. Da werden Berufe munter durch die Jahrhunderte in die Vergangenheit transportiert, es mangelt an Einfühlungsvermögen für die Zeit und den Stil…
Der Rezensent kann daher nicht umhin, diese Anthologie als eine Art von Gemischtwarenladen zu begreifen. Ehrenwert, dass sie zusammengestellt wurde, ist es schon. Aber Klaus-Peter Walters (!) Einleitung macht die Art der Zusammenstellung und ihre höchst heterogene Qualität nun wirklich nicht durchsichtig. Hier hätte ich mir eine solidere Auswahl gewünscht – ganz zu schweigen von einem besseren Lektorat. So gehen gelegentlich die „Moriatys“ (sic!) durch, es fehlen gelegentlich Silben, „Der Hund der Baskervilles“ wird – unzutreffend – „Der Hund von Baskerville“ genannt (als wenn Baskerville ein Ort wäre!), Watson grüßt auch schon mal mit „Grüß Gott!“, als wäre er Bayer, der Londoner Stadtteil Whitechapel macht ernste Schwierigkeiten und wird mal als „White Chapell“, mal als „Whitechappel“ geschrieben. Dann gibt es das „Bakers-Sreet-Freikorps“ (sic!) (das haben wohl die Polen übersehen, das Manuskript wurde ja aus Kostengründen in Polen gedruckt), manchmal ist etwas auch „von Flecken übersäht“ (sic!)… also, da ist durchaus noch Luft nach oben zum Verbessern, wenn man mich fragt.
Abgesehen von diesen Kritikpunkten ist die Anthologie aber durchaus lesenswert und eignet sich für einen schönen, rund 14 Tage dauernden Abstecher in die Welt des Sherlock Holmes. Es empfiehlt sich, jeden Tag höchstens eine Geschichte zu lesen, um das Vergnügen andauern zu lassen (na schön, wenn eine gründlich missraten ist, vielleicht zwei, um es auszugleichen). Man darf auf weitere Anthologien dieser Art gespannt sein.
© by Uwe Lammers, 2011
Ihr merkt es, Freunde – selbst wenn man Holmes-Fan ist und die Literatur sehr schätzt, heißt das noch lange nicht, dass man sich schlichtweg alles bieten lassen muss, was hier unter dem Label „Holmes“ verkauft wird (und manchmal zu einem wirklich gesalzenen Preis, wie jeder festzustellen imstande ist, der die neueren Holmes-Publikationen verfolgt, da wird zum Teil echte Beutelschneiderei vorgenommen!).
Ich halte es aber an dieser Stelle dann auch für ein Zeichen von gutem Stil, wenn ich solche Anthologien bespreche und euch auf die Perlen und auch auf die Rohrkrepierer hinweise, die sich oftmals in bunter Mischung in ein und demselben Buch finden.
Soviel also für den Moment zu Mr. Holmes. In der kommenden Woche kehren wir ins eskalierende Armageddon-Universum des Mr. Hamilton zurück, und ich denke, darauf können wir uns wirklich freuen.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vor vielen Jahren habe ich mal einen SF-Roman gelesen, der das Thema ebenfalls aufgriff. Leider habe ich ihn aktuell nicht griffbereit und kann mit den bibliografischen Fakten nicht dienen. Es handelt sich um Bob Shaws Roman „Brandmuster“, in dem Shaw diese Selbstentzündungsphänomene als außerirdischen Invasionsversuch von einer höchst lebensfeindlichen Welt darstellt. Eine höchst originelle Deutung.
In dieselbe Kerle schlägt übrigens die beeindruckende Story „Das Rätsel des Warwickshire-Wirbels“ von F. Gwynplaine MacIntyre in der Anthologie von Mike Ashley (Hg.): „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bergisch-Gladbach 2003. Hier dient er aber als Verschleierung eines Verbrechens, weniger als Thema an sich. Die Strukturen sind aber sehr klar identisch. Doch dort, wo Kastenholz eher kursorisch ist, geht MacIntyre erheblich tiefer.
2 Wenn man dann bedenkt, dass Walter die Einleitung geschrieben hat, gerät man noch mehr ins Grübeln und zieht zwei Alternativen in Betracht. Alternative 1 sieht so aus, dass Herausgeberin Bionda ihm tatsächlich nur 15 Seiten zugestand und Walter den Plot auf diesen Seiten nicht entwickeln konnte (die Ausführlichkeit der Geschichte legt tatsächlich nahe, dass er wenigstens noch 15 Seiten gebraucht hätte). Das ist, wie oben erwähnt, äußerst unsympathisch. Alternative 2 ist noch unangenehmer: sie geht davon aus, dass der Verfasser durchaus mehr Platz hätte bekommen können… wenn er denn für die Story schon eine Auflösung gehabt hätte! In diesem Fall wäre die schnippische Schlussfloskel eine unverschämte Form von Ausrede für eine nicht vollständig vorliegende Fallgeschichte aus dem Sherlock-Holmes-Kosmos. In Anbetracht der vorliegenden Fakten kann aber nicht gesagt werden, welche Deutung zutrifft oder ob es weitere Möglichkeiten gibt. Die vorliegende Version ist jedenfalls ungenügend.