Liebe Freunde des OSM,
heute gehen wir mal mit diesem Roman durch die Hölle, die unserer Welt glücklicherweise erspart geblieben ist. Gerade deshalb aber bin ich der Auffassung, hieran eine Besonderheit von phantastischer Literatur – dieser Roman ist nicht als solche etikettiert, gehört aber, wie ihr schnell erkennen werdet, dennoch in dieses Genre – herausarbeiten zu können. Wie ich kürzlich schon erwähnt habe, ist phantastische Literatur manchmal geeignet, Dinge darzustellen oder politisch-wissenschaftliche Theorien zu durchdenken, die man in realiter manchmal weder aussprechen noch handfest erproben kann.
Wie probt man beispielsweise einen nuklearen Dritten Weltkrieg, der die Welt in Schutt und Asche legt? Es empfiehlt sich nicht, das in der Wirklichkeit auszuprobieren. Auf dem Papier funktioniert das mitunter durchaus, selbst wenn natürlich alles Spekulation bleibt. Die Warnfunktion ist dabei weiterhin intakt und vermag nicht nur politische Signale in die Friedensbewegung zu senden, sondern gegebenenfalls auch in politisch verantwortliche Kreise.
Dummerweise hat gerade dieses Buch eine Achillesferse, weswegen ich eine Leseeinschränkung aussprechen musste. Aber schaut euch das besser selbst an:
Gegenschlag
(OT: Arc Light)
von Eric L. Harry
Heyne 13441
736 Seiten, TB
Januar 2002, 9.95 Euro
Übersetzt von Heiner Friedlich
Das zwanzigste Jahrhundert ist ja nun wahrlich an Alpträumen, die Wirklichkeit wurden, nicht gerade arm, und häufig nahmen diese Alpträume die Gestalt von Kriegen an. Wenn nun jemand Anwalt ist und Experte für Militärfragen, zudem auch, wie der Autor des vorliegenden Buches, mit einer aus Moskau stammenden Russin verheiratet ist und dort zum Teil studiert hat, und wenn dieser Autor sich vornimmt, unter die Schriftsteller zu gehen, was liegt dann nahe? Über einen Krieg zu schreiben, den es nie gegeben hat: den Dritten Weltkrieg, in dem Russland und Amerika in ein nukleares Desaster verstrickt werden.
Und schon sind wir mitten in der Phantastik.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts (der Roman wurde 1994 in den Staaten veröffentlicht) befinden sich Russland und China im Krieg. Die beiden Staaten sind in Fernost ineinander verkeilt, die Lage ist prekär, aber scheinbar stabil. Diese Ansicht täuscht.
Als chinesische Armeen überraschend damit beginnen, Korea zu überrollen, entschließt sich die russische Führung unter General Rasow dazu, Peking mit einem nuklearen Schlagabtausch in Fernost vor vollendete Tatsachen zu stellen und informiert davon vorab die amerikanische Regierung. Doch wie General Thomas in Washington Rasow richtig sagt, geht dabei etwas schief. Er ahnt freilich nicht, dass das Sicherheitsleck der eigene Präsident ist.
Präsident Livingstone, zutiefst friedfertig, ist entsetzt von der Vorstellung, dass womöglich Millionen von arglos scheinenden Chinesen der nuklearen Vernichtung ausgesetzt sind – er lässt Peking vom bevorstehenden russischen Angriff in Kenntnis setzen und löst damit eine Kaskade schrecklicher Ereignisse aus.
Denn in Russlands fernem Osten gibt es den russischen Befehlshaber Zorin, der einen tiefen Hass gegen Amerika hegt. Als er sehen muss, wie seine Untergebenen im chinesischen Konterschlag zugrunde gehen, putscht er sich an die Macht und befiehlt das Abfeuern einer Salve nuklearer Missiles auf die amerikanische Landmasse. Millionen Menschen finden den Tod, das Chaos regiert.
Zwar kann in der Folge General Rasow wieder die Gewalt in Moskau übernehmen und Zorin inhaftieren, aber der Schaden ist angerichtet, und die Folgen sind unermesslich: die ganze amerikanische Nation brennt voller Hass, die Medien schreien nach russischem Blut, der Senat will den Kopf von Präsident Livingstone, und ehe sie alle verstehen, was geschieht, marschieren Zehntausende von amerikanischen GIs in die osteuropäischen und fernöstlichen Gebiete des einstigen sowjetischen Reiches ein. Das erklärte Ziel: Rache an den Moskauer Befehlshabern, Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation.
Wenn da nicht nur noch die Unterseeboote wären, in deren Silos der millionenfache Tod lauert. Es ist nur ein einziger Schritt bis zur Apokalypse, und der Fuß schwebt bereits in der Luft…
Man kann über diesen Roman sagen, was man möchte, Eric L. Harry hat es geschafft, das Szenario eines potentiellen Dritten Weltkrieges auf sehr interessante Weise darzustellen, selbst wenn ich gestehen muss, dass mich das militärische Gebabbel auf den letzten zweihundertfünfzig Seiten doch zum Teil sehr genervt hat. Indem er geschickt Haupthandlungsträger (auf der amerikanischen Seite) auswählt, schafft er es, sowohl die präsidiale Ebene zu präsentieren (über Präsident Livingstone und seinen Berater Greg Lambert) als auch die der einfachen Soldaten (über den eigentlich untalentierten David Chandler, der unvermittelt an die Spitze der militärischen Kolonne auf dem Marsch nach Moskau katapultiert wird und das Grauen des Krieges hautnah miterlebt) und der einfachen Zivilisten (anhand von Chandlers Frau Melissa, die unmittelbar in der Katastrophe ihr Baby zur Welt bringt). Man erhält also weitaus mehr als den üblichen „Militärroman“ um die letzte aller Schlachten.
Der interessierte Leser erhält einen manchmal wirklich quälenden Einblick darin, wie sehr die unvermittelte Lage eines Krieges das gesamte zivile und politische Leben erst zum Stillstand zwingt und dann in ein völlig anderes Fahrwasser als bisher drängt, wie Stress, Vorahnungen, nicht deckungsgleiche Prognosen und Hysterie tödliche Fehlentscheidungen zur Folge haben können. Das alles bringt Harry insbesondere in den spannungsgeladenen Krisensituationen äußerst plausibel herüber, worin die unbestreitbare Stärke des Romans liegt. Man nimmt ihm die Handlungsweise der Personen in den meisten Fällen ab.
Leider hat dieses Werk auch erkennbare Mängel.
Während die amerikanische Seite zum Teil ausgesprochen gut dargestellt wird, wie erwähnt, fällt bedrückend auf, wie amorph die Gegenseite bleibt. Besonders schlimm ist es bei der Landung der amerikanischen Truppen auf der Halbinsel Kamtschatka im Fernen Osten, wo bisweilen jeder einzelne Angehörige eines Platoon-Trupps mit persönlichen Eigenheiten beschrieben wird, man mithin auch jeden einzelnen Verlust schmerzhaft deutlich zu spüren bekommt. Auf der Gegenseite hat man dagegen nur amorphe, namenlose, nur gelegentlich durch flackernde Bilder („junge, blonde Russen, die mit Angst in den Augen voranstürmten“) erhellte Menschenmengen, die unterschiedslos in die Luft gesprengt oder durch Maschinengewehrfeuer niedergemetzelt werden. Hier darf dem Leser elend werden.
Wenn man als kritischer Leser jedoch ehrlich ist, muss man konstatieren, dass man außer der russischen obersten Militärführung nahezu überhaupt niemanden mit Namen kennenlernt und dass ein paralleler Blick aus dem russischen Blickwinkel völlig unterbleibt. Das erzeugt gegen Ende des Buches eine wirklich unangenehme Atmosphäre der Voreingenommenheit, ja, der Künstlichkeit. Der Autor ist Amerikaner, gut. Er beschreibt die amerikanische Sichtweise. Gut. Aber dem kritischen Leser ist das erkennbar nicht genug, weil er spürt, dass das russische Volk sehr deutlich unter dem Krieg mindestens ebenso schlimm leidet wie das amerikanische. Und diese Parteilichkeit muss man dem sonst so eloquenten Harry übel nehmen.
Zugegeben, der Roman ist lesbar. Ebenso zugegeben, die Wahl der Personen ist nützlich und hilfreich, eine breite Schicht von Betroffenen darzustellen. Zugleich aber ist der oben genannte Mangel nicht durch eine Auswahl ähnlicher russischer Protagonisten ergänzt worden (die Frau des Diplomaten Pawel Filipow, die in Amerika zurückbleibt und Opfer radioaktiven Fallouts wird, zählt hier wirklich nicht). Das Volk Russlands erhält keine Stimme und wird, wie so oft, auf die Rolle des stumm Leidenden zurückgeworfen. Das ist für das Buch wirklich ein großer Verlust.
Deshalb – und weil meines Erachtens grob fahrlässig mit den Gefahren der Radioaktivität umgegangen wird – würde ich das Buch nur mit starken Einschränkungen empfehlen wollen.
© by Uwe Lammers, 2005
Das Schöne an gelesenen Romanen, deren Schwachstellen man erkannt hat, besteht darin, dass eine derartige Rezension eine Steilvorlage für bessere Nachfolgeromane darstellt. Das ist wie im realen Leben: wenn man einen Fehler erkannt hat, auch solch einer, den andere begangen haben, dann kann man das beim nächsten Mal ändern. Ich selbst trage mich zwar nicht mit dem Gedanken, einen Roman über den Dritten Weltkrieg zu schreiben, aber ich gebe zu, es gibt im Oki Stanwer Mythos (OSM) durchaus gewisse Welten und Ereignislinien, die ähnliche Desaster beschreiben. Darum empfinde ich es ja auch, wiewohl ich Krieg als Mittel politischer Auseinandersetzungen strikt ablehne, als durchaus nützlich, manchmal auch solche furchtbaren Werke zu lesen. Man lernt daraus. Lieben muss man sie nicht.
In der kommenden Woche gehen wir es wieder behaglicher an und verfolgen die dritte Suche des Schatzsucher-Ehepaars Sam und Remi Fargo. Seid doch einfach wieder mit an Bord, Freunde.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.