Rezensions-Blog 5: Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton

Posted April 29th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer mich lange genug kennt, weiß zur Genüge, dass ich den legendären Detek­tiv Sherlock Holmes nun wirklich sehr mag und mich immer wieder höchst be­reitwillig in ein Leseabenteuer stürze, wenn einer der Holmes-Epigonen in der Nachfolge von Sir Arthur Conan Doyle eine Geschichte zu Holmes und seinem „Eckermann“ Dr. John Watson geschrieben hat. Manchmal entdeckt man da fas­zinierende Perlen der Unterhaltungsliteratur.

Besonders angetan hatte es mir vor knapp 10 Jahren das vorliegende Werk, in dem sich zahlreiche höchst interessante und bisweilen raffiniert geschriebene Werke zum Holmes-Kanon befinden. Einige davon streifen mehr oder weniger absichtlich die Ränder der Phantastik, und wie es sich für gute Holmes-Ge­schichten gehört, wimmeln sie von historischen und literarischen Anspielungen und Personen. Ich nehme zuversichtlich an, dass man sie durchaus mehrfach le­sen kann und stets neue Vignetten entdeckt, die man beim ersten Durch­schmausen übersehen hat.

Es ist darum absolut notwendig, diese schöne Anthologie wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, auch wenn sie wahrscheinlich nur noch antiquarisch zu erhalten ist. Lasst euch auf das Abenteuer ein, wenn ihr Holmes noch nicht kennen soll­tet… und falls das Gegenteil der Fall ist und ihr alle Holmes-Geschichten von Sir Doyle schon verschlungen habt – dann könnt ihr hier das Leseabenteuer aus­dehnen. Es lohnt sich.

Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton

Neue Sherlock-Holmes-Geschichten, herausgegeben von Mike Ashley

Bastei 14916, Juni 2003

768 Seiten, TB, 10.00 Euro

Übersetzt von Beate Brandenburg & Ulf Ritgen, Linda Budinger, Axel Franken, Angela Koonen, Michael Kubiak, Ruggero Leó, Alexander Lohmann, Frauke Meier, Jutta Neumann, Marianne Schmidt, Simone Schmidt, Ulrike Zehetmayr

Als Arthur Conan Doyle – damals noch nicht geadelt, wovon er wohl auch nicht entfernt träumen konnte – im Jahre 1887 in einem recht kurzen Episodenroman mit dem Titel „Eine Studie in Scharlachrot“ erstmals einen exzentrisch wirken­den, verkleidungssüchtigen und nicht minder dem Kokain zugetanen Denker und brillanten Kriminalisten mit einem frisch aus dem Afghanistankrieg zurück­kehrenden Arzt John Watson zusammenstoßen ließ, konnte er sich kaum dar­über im Klaren sein, dass er mit dem schmalgesichtigen, asketischen Sherlock Holmes eine der legendärsten Figuren der Detektivgeschichte schuf. Doch ge­nau so kam es, und nachdem er im Verlaufe der folgenden 40 Lebensjahre 4 Ro­mane und 56 Kurzgeschichten über diesen Mann und sein Umfeld geschrieben hatte, lebte der Mythos Sherlock Holmes weiter und überdauerte sogar seinen Schöpfer.

Denn Doyle entwickelte ein verwirrendes Gespinst von Fällen, von Fallstricken, falschen Hinweisen, verschleierten Andeutungen und am Rande erwähnten Fäl­len, die geradezu danach SCHRIEN, entdeckt, recherchiert und niedergeschrie­ben zu werden. Es war unwichtig, dass Holmes und Watson fiktive Figuren wa­ren. Es lag durchaus nahe und war überaus reizvoll, auch in einer fiktive Bio­grafie, verknüpft mit der höchst lohnenden historischen Epoche des ausklingen­den Viktorianischen Zeitalters, reale Personen und Geschehnisse in den Hol­mes-Kosmos einzumengen und zugleich Anspielungen auf das zu geben, was Doyle in seinem „Originalkanon“ teilweise nur andeutete.

Ähnlich wie im Fall von Howard Phillips Lovecraft und seinem Cthulhu-Mythos fanden sich Scharen von Epigonen, die mal mehr, mal weniger gelungen den Stil ihres Vorbildes Arthur Conan Doyle imitierten und in unterschiedlich überzeu­gender Weise den berühmten Detektiv auf Fälle ansetzten, die vielverspre­chend waren.

Dieser Band versammelt 26 „neue“ Holmes-Geschichten, sehr heterogener Na­tur, wie es auch die Autorenriege vermuten lässt. Da finden sich beispielsweise die SF-Autoren Stephen Baxter (Xeelee-Zyklus, Multiversum-Zyklus) und Eric Brown („Tage auf Meridian“), Horror-Schriftsteller wie Simon Clark und Basil Copper, bekennende Sherlock-Holmes-Fans wie David Stuart Davies, der Anwalt Martin Edwards, Gerichtsmediziner wie Zakaria Erzinçlioglu oder die allgemein bekannten Schriftstellergrößen Michael Moorcock und Peter Tremayne.

Die Geschichten orientieren sich an einer Zeitachse, was es sinnvoll macht, sie von vorne entsprechend dem Inhaltsverzeichnis zu lesen. Ebenso empfiehlt es sich, des Vergnügens wegen, nicht mehr als ein oder zwei Geschichten pro Tag zu sich zu nehmen. Diesem quasi-ärztlichen Ratschlag sollte man folgen, um die Lektüre ein wenig zu strecken. Es macht ungemeinen Spaß, die scharfsinnigen Windungen des manchmal beleidigend zuversichtlichen Sherlock Holmes zu verfolgen, beim Lesen innezuhalten und eigene Hypothesen aufzustellen (recht häufig kommt man nicht mal in die Nähe der Lösung, was den Lesegenuss noch mehr erhöht).

Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen und schauen uns die Geschichten selbst an.

Zwei kleine, fast anekdotische Stories, „Die lästige Angelegenheit mit dem Rembrandt“ und „Der Diebstahl im Kildare Street Club“ beleuchten ein paar interessante Details aus Holmes´ Studienzeit, also vor dem Kennenlernen von Watson und Holmes. Doch wer beschreibt die Überraschung des Lesers, schon hier auf die Spuren von Sebastian Moran1 und dem sinistren James Moriarty2 zu stoßen…?

In den 1880er-Jahren werden neun der Fälle angesiedelt, darunter die schreck­liche Erzählung um „Vittoria, die Zirkusschönheit“ und die faszinierende und mehrere Jahrtausende zurückreichende Geschichte um „Die Amateurbettelge­meinschaft“. Ganz zu schweigen von einem kolonialen Drama monströser Aus­maße, das Holmes in „Das Verschwinden der Atkinsons“ aufdeckt. Und dann ist da noch die Geschichte von Professor Hardcastle, den Aerolithen und den Ros­marinzweigen zu erwähnen, die doch höchst… absonderlich ist (vgl. Simon Clark: „Der gefallene Stern“).

Zehn Geschichten werden den 1890er-Jahren zugeordnet. Michael Moorcock macht Holmes mit einem rätselhaften „Untermieter“ bekannt, der eine noch seltsamere Erbschaft anzutreten hat, Barrie Roberts, dessen Geschichte den Titel der Storysammlung liefert, konfrontiert den Detektiv und seinen Paladin mit einem allgemeinen Phänomen, das Holmes anfangs überhaupt nicht glaubt: einem verfluchten Grab in der Ortschaft Addleton, das für sich in Anspruch nimmt, dass darauf kein Schnee liegenbleibt. Es ist auch nicht zu fotografieren, wie man erkennen muss… und in seiner Umgebung kommen rätselhafte Todesfälle wie Heilungsfälle vor. Eine wirklich interessante und dem wissenschaftlichen Kenntnisstand der 1890er-Jahre sehr angemessene Story. Monströs hingegen ist das, was uns der SF-Autor Stephen Baxter in „Der Masse-Regulierer“ zumutet, der mit H. G. Wells eine neckische Nebenfigur einführt. Kaum weniger schlimm ist die Folgegeschichte von Peter Crowther. „Gottes Fingerabdruck“ ist eine Redewendung, die heute etwas aus der Mode gekommen ist und auch mir ungeläufig war. Aber hier gehen Aberglauben, religiöser Fanatismus und schiere, existentielle Verzweiflung eine entsetzliche Verbindung ein, die den Leser grausen lässt…

Der letzte Teil, „Die letzten Jahre“ überschrieben, liefert uns fünf weitere Ge­schichten, von denen diejenige, die sich direkt an die Originalkanon-Geschichte „Das Musgrave-Ritual“3 anschließt (und sogar am selben Ort spielt, auch wenn dabei ein Ort namens „Baskerville“ (!) erwähnt wird) sowie die lange Erzählung über den „bulgarischen Diplomaten“ besonders hervorzuheben sind. Das Glanzstück scheint mir aber für diese letzte Ebene die ungemein phantastische Story „Das Rätsel des Warwickshire-Wirbels“ von F. Gywnplaine McIntyre zu sein, die es verdient, ein wenig genauer referiert zu werden:

Im Jahre 1875 verschwand der Geschäftsmann James Phillimore, als er in sein Haus zurückkehrte, um seinen Regenschirm zu holen. Alles, was von ihm blieb, waren ein paar Abdrücke seiner Schuhe im Fußboden des Foyers, die allerdings halbiert waren von einem sechs Fuß durchmessenden rußgeschwärzten Kreis, sowie ein paar säuberlich zertrennte Stücke seines Regenschirms. Das Ver­schwinden konnte Sherlock Holmes niemals aufklären. Als er mit Dr. Watson aufgefordert wird, im Jahre 1906 in das von einem Erdbeben verwüstete San Francisco zu kommen und diesem Ansinnen nachkommt, machen sie einen Zwi­schenstopp in New York. Aus lauter Langeweile folgt Holmes hier seinem Freund in ein Lichtspieltheater, wo der neue Kinematograph vorgeführt wird. Und zu Holmes unglaublichem Erstaunen taucht mitten auf der Leinwand eine ihm wohlvertraute Gestalt auf: James Phillimore, genauso aussehend wie zum Zeitpunkt seines Verschwindens vor 30 Jahren. Er lächelt in die Kamera – und ist im nächsten Augenblick spurlos verschwunden. Holmes nimmt voller Elan die Fährte auf – doch wie dieser faszinierende Fall gelöst wird, muss man wirklich selbst lesen. Hier kann der Rezensent nur beeindruckt den Hut ziehen…

Abgerundet von einer vielleicht nicht erschöpfenden, aber in jedem Fall höchst beeindruckenden Chronologie, die die Fälle des Originalkanons wie auch jene in diesem Buch in eine einheitliche zeitliche Reihenfolge bringt, erweist sich dieses Werk als ein in höchstem Maße empfehlenswertes Lesevergnügen, das man sich als wahrer Holmes-Fan oder auch als Fan von faszinierenden Kriminalge­schichten aus der viktorianischen Zeit nicht entgehen lassen sollte. Es empfiehlt sich allerdings, um einen Teil der Anspielungen nachvollziehen zu können, die Geschichten des Originalkanons inklusive der Romane zuvor gelesen zu haben. Ich denke, man kann aufgrund dieser Geschichten gut zum Holmes-Fan werden, wenn man es nicht zuvor schon war…

© by Uwe Lammers, 2006

Nun, ich denke, da ist der Mund hinreichend wässrig gemacht worden. Macht euch auf die Jagd, meine Freunde, am besten mit dem alten Holmes-Schlacht­ruf an seinen Kompagnon Watson: „Watson, die Jagd ist auf!“

Soviel für heute.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu Arthur Conan Doyle: „Das leere Haus“ (1903, die Story spielt im Februar 1894).

2 Vgl. dazu Arthur Conan Doyle: „Sein letzter Fall“ (1893, die Story spielt im April/Mai 1891).

3 Vgl. dazu Arthur Conan Doyle: „Das Musgrave-Ritual“ (1893, die Story spielt etwa 1878).

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